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Streit um IM-Zahlen: Stasi-Spitzel oder nicht?

Es gab zu DDR-Zeiten womöglich deutlich weniger Stasi-Spitzel als bislang angenommen – an dieser Meldung entzündete sich vor einem Jahr ein heftiger Streit. Die Stasiunterlagenbehörde legt sich jetzt fest.

Von Matthias Schlegel

Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch in der Stasiunterlagenbehörde selbst hatte Anfang vergangenen Jahres die Veröffentlichung des Buches „Stasi konkret“ des Historikers und Behördenmitarbeiters Ilko-Sascha Kowalczuk großes Aufsehen erregt. Die einen begrüßten leidenschaftlich, dass nun endlich Vernunft in die hochemotionale Debatte um das Phänomen „Stasi-Spitzel“ einkehre, die anderen warfen dem Autor den Versuch zur Verharmlosung der DDR-Vergangenheit vor.

Der Autor hatte in seinem nicht von der Behörde in Auftrag gegebenen und von ihr auch nicht verantworteten Buch unter anderem jahrzehntelange Forschungen zur Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter infrage gestellt. So zweifelte er unter anderem an, dass zwei IM-Kategorien, die „Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit“ (GMS) und die „Inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens“ (IMK), mit in die Gesamtzahl der IM einzurechnen seien.

Begründet wurde dies unter anderem damit, dass unter beiden Kategorien viele hauptamtliche Mitarbeiter mitgezählt würden und dass in die IMK-Kategorie auch unbewohnte konspirative Wohnungen und andere Objekte, also nicht nur Personen, einbezogen würden.

Die Auseinandersetzung hatte große Verunsicherung ausgelöst

Nach dieser Lesart hätte die in der bisherigen Forschung der Stasiunterlagebehörde ermittelte Zahl von 189 000 Inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern, die es am Ende der DDR gab, auf 109 000 reduziert werden müssen. Und es hätten sich daraus juristische Konsequenzen ergeben können. In der von Roland Jahn geleiteten Behörde hatte die Auseinandersetzung um die strittige Faktenlage große Verunsicherung ausgelöst, weil befürchtet wurde, dass sich daraus auch Konsequenzen für den Umgang mit der Aufarbeitung und Herausgabe der Akten ergeben würden. Und unter den Wissenschaftlern bildeten sich zwei Lager: Jene, die Kowalczuk folgten, weil sie meinten, er breche verkrustete Forschungsstrukturen auf, und jene, die dem bisherigen IM-Experten Helmut Müller-Enbergs die Treue hielten, der in zwei Jahrzehnten zu diesem Thema mehrere umfängliche Bände veröffentlicht hatte.

Nach Tagesspiegel-Informationen will die Behörde nun einen Schlussstrich unter diese Debatte ziehen. Mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter sollen in den vergangenen Monaten damit befasst gewesen sein, die Plausibilität der unterschiedlichen Aussagen zu überprüfen. Nach einer Beratung in der Forschungsabteilung der Behörde Anfang April und in Abstimmung mit dem wissenschaftlichen Beratungsgremium wird intern wie auch in der Öffentlichkeitsarbeit weiterhin davon ausgegangen, dass GMS und IMK als IM-Kategorien geführt werden. Im Grunde werden damit die Definitionen und die Größenordnung von Müller-Enbergs übernommen. Das war bereits aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion im Mai 2013 hervorgegangen, die damals noch von spürbarer Unsicherheit geprägt war. Weil es zu DDR-Zeiten aber in den Bezirks- und Kreisverwaltungen der Stasi regionale Unterschiede beim Umgang mit den IM-Kategorien gegeben habe und weil Doppel- oder fehlerhafte Registrierungen nicht komplett auszuschließen seien, will man sich künftig nicht mehr auf eine so klar umrissene Zahl einlassen. So soll künftig intern und in der Öffentlichkeit von „rund 180 000 Inoffiziellen Mitarbeitern“ der Staatssicherheit die Rede sein. Diese Sprachregelung wird wohl dieser Tage in der Behörde an der Karl-Liebknecht-Straße vermittelt.

Der Streit dürfte noch nicht beendet sein

Müller-Enbergs selbst hatte sich ein Jahr lang zu den Angriffen auf seine Forschungsarbeit nicht geäußert. In einer aktuellen Stellungnahme, die dem Tagesspiegel vorliegt, sieht er sich nun vollauf bestätigt. Er verweist unter anderem darauf, dass alle GMS „über ihre dienstlichen Belange hinaus über die Privatsphäre ihrer sozialen Umwelt berichtet“ hätten. Und IM, die ihre Wohnungen für konspirative Zwecke bereitgestellt hätten, seien zugleich Informanten des MfS gewesen. Dem Buch „Stasi konkret“ wirft Müller-Enbergs vor, „dokumentierte Unkenntnis“ zu enthalten. Der Streit dürfte demnach nicht beendet sein.

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