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Berlin: Streit um Medikamente: Nach dem Patientenaufstand bröckelt die Front der Kassen

Offiziell verkünden beide Gegner, man komme sich näher und werde intensiv verhandeln - doch zugleich nimmt das Hin und Her um die Bezahlung einer ganzen Reihe von strittigen Arzneimitteln für Krebs-und Multiple-Sklerose-Kranke in Berlin teils bizarre Züge an. Ärzte und Patienten halten an den Medikamenten fest, weil sie nach ihrer Überzeugung langjährig erprobt sind, nachweislich Erfolg haben und häufig vor Nebenwirkungen schützen, die bei anderen gängigen Präparaten auftreten können.

Offiziell verkünden beide Gegner, man komme sich näher und werde intensiv verhandeln - doch zugleich nimmt das Hin und Her um die Bezahlung einer ganzen Reihe von strittigen Arzneimitteln für Krebs-und Multiple-Sklerose-Kranke in Berlin teils bizarre Züge an. Ärzte und Patienten halten an den Medikamenten fest, weil sie nach ihrer Überzeugung langjährig erprobt sind, nachweislich Erfolg haben und häufig vor Nebenwirkungen schützen, die bei anderen gängigen Präparaten auftreten können. Die Arbeitsgemeinschaft der Berliner Krankenkassen beharrte jedoch in den vergangenen Tagen auf ihrer völlig konträren Position: Sie wolle die betroffenen Kranken vor unabsehbaren Risiken schützen und lehne eine Kostenübernahme für die umstrittenen Arzneien bis auf weiteres pauschal ab.

Wie berichtet, geht es bei der Auseinandersetzung um Medikamente, die nur gegen bestimmte Tumore oder Verlaufsformen der Multiplen Sklerose (MS) zugelassen sind oder noch keinerlei Zulassung haben, aber bundesweit in Kliniken und Arztpraxen seit vielen Jahren auch gegen andere Geschwülste und MS-Versionen verordnet werden. Dabei berufen sich die Mediziner auf klinische Studien und einen breiten Erfahrungshintergrund. Jahrelang waren die gesetzlichen Krankenkassen damit einverstanden und übernahmen die Kosten, doch seit Sommer dieses Jahres stellen sich mehrere Berliner Versicherungen überraschend quer. Nun verlangen sie noch breitere Studien, wie sie für die Zulassung eines Präparats vorgeschrieben sind. Andernfalls seien die Wirksamkeit und Nebenwirkungen unzureichend erforscht.

Zugleich setzten die Kassen etliche Ärzte mit Schadensanträgen unter Druck. Sie sollen die Kosten bereits verschriebener Medikamente zurückerstatten, außerdem drohen ihnen weitere Regresse, sollten sie den Verordnungsstopp künftig ignorieren. Krebs- und Nervenärzte sowie Patientenverbände wehrten sich daraufhin vehement und zwangen die Kassen an den Verhandlungstisch. Das geht aus einer jüngst veröffentlichten Erklärung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und der AG der Krankenkassen hervor. Darin heißt es, man werde ab Mitte September zusammen abwägen, für welche Anwendungsgebiete die umstrittenen Präparate akzeptabel seien und von den Kassen übernommen werden könnten. Bis zum Abschluss der Gespräche werden die Regressanträge ausgesetzt.

Die Zeit drängt, denn bis zur erhofften Einigung zahlen zumindest die großen Kassen wie Barmer und BKK keinen Pfennig. Etliche Patienten finanzieren ihre Medikamente folglich auf Anraten der Ärzte selbst. Sie sind überzeugt, dass sie andernfalls erhebliche gesundheitliche Rückschläge hinnehmen müssten. Doch lange lässt sich das kaum durchhalten, weil die Präparate pro Monat eine Menge Geld kosten.

Beispiel 1: Gemzar. Es ist zugelassen gegen Tumore der Bauchspeicheldrüse, wird unter bestimmten Bedingungen aber auch erfolgreich gegen Gallenwegs- und Mammakarzinome eingesetzt. Häufig ist es in diesen Fällen besser verträglich als die für beide Krebsarten amtlich abgesegneten Arzneimittel. Monatliche Therapiekosten: knapp 4000 Mark.

Beispiel 2: Immunglobuline gegen die schubförmig verlaufende Multiple Sklerose. Normalerweise werden Interferon- und Copaxon-Präparate (siehe Kasten) bei dieser MS-Form eingesetzt. Doch beide Mittel können schwere Nebenwirkungen auslösen, beispielsweise allergische Reaktionen oder Grippesymptome bis zu starkem Schüttelfrost. Außerdem schädigen sie bei schwangeren Frauen den Fötus. Solche Kontraindikationen erfordern eine wirksame Alternative - und das sind aus Sicht vieler Neurologen die Immunglobuline. Sie werden auch bei anderen Autoimmunerkrankungen, bei denen der Körper anfängt, sich selbst zu zerstören, teils erfolgreich eingesetzt. Doch für MS gibt es keine Zulassung, weshalb sich etliche Kassen neuerdings sperren und Patienten bis zu 2000 Mark monatlich selbst zahlen müssen. Das droht nun einem Großteil der rund 1200 MS-Kranken in Berlin, die nach Angaben der Deutschen MS-Gesellschaft mit Immunglobulinen behandelt werden. Insgesamt leiden in der Stadt etwa 5000 Menschen unter Multipler Sklerose.

Während einer Schwangerschaft kommt die MS in der Regel vorübergehend zum Stillstand, doch umso schwieriger ist für Frauen mit Kinderwunsch die Zeit vor der Empfängnis. Vielleicht sind sie schon schwanger und wissen es noch nicht - in diesem Falle sind sie auf Immunglobuline angewiesen. Außerhalb von Berlin wäre das nirgendwo ein Problem, weil die Kassen nahezu bundesweit Immunglobuline im Einsatz gegen MS erstatten. So stellen die Kassen und die Kassenärztliche Vereinigung im Bereich Nord-Baden beispielsweise in einem gemeinsamen Prüfbericht fest, dass "Immunglobuline indiziert sind zur Behandlung von MS".

Auch die Berliner Kassen verhielten sich in den vergangenen Jahren liberal. Das geht aus Bewilligungen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegen. Nun aber vertreten sie plötzlich die Ansicht, Nutzen und Risiken solcher Therapien könnten noch gar nicht beurteilt werden. Dabei bröckelt allerdings ihre Front. So hat die Siemens-Betriebskrankenkasse in der vergangenen Woche den Einsatz von Immunglobulinen "im Einzelfall" genehmigt.

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