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Streitgespräch über Rot-Grün in Berlin: „Wowereit hat Angst“ – „Überhaupt nicht“

Im Herbst 2011 wird in Berlin gewählt, doch die Debatte über Rot-Grün und eine Spitzenkandidatin Renate Künast hat begonnen. SPD-Parteichef Müller und Grünen-Fraktionschef Ratzmann streiten über rot-rote Versäumnisse und grüne Selbstgerechtigkeiten.

Herr Müller, Herr Ratzmann, laut Umfragen haben SPD und Grüne zusammen 49 Prozent. Reden Sie schon über Rot-Grün?

MÜLLER: Bisher nicht.

Sprechen Sie überhaupt miteinander?

RATZMANN: Natürlich. Wir haben gerade einen gemeinsamen Gesetzentwurf zum Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht. Wir verständigen uns auch über andere Parlamentsanträge.

Gibt es regelmäßige Treffen?

MÜLLER: Wir unterhalten uns regelmäßig, etwa über Bildungspolitik oder innenpolitische Fragen. Auf fachpolitischer Ebene gibt es viele Gespräche. Das ist im Parlamentarismus auch ganz normal.

Wo sind die größten Schnittmengen?

RATZMANN: Innenpolitisch waren SPD und Grüne immer nah beieinander. Wir haben aus der Opposition heraus mit dafür gesorgt, dass sich die 1.-Mai-Strategie ab 2002 änderte. Finanzpolitisch nehme ich bei der SPD wahr, dass die Haushaltskonsolidierung wieder aufgenommen werden muss. Das unterstützen wir.

MÜLLER: Bildungspolitisch wollen beide Parteien die Zweigliedrigkeit des Schulsystems und das Ausweiten der Betreuungsangebote, inklusive der Ganztagsschulen. In der Finanzpolitik gibt es gemeinsame Positionen, aber auch Trennendes. Die Grünen können sich zum Beispiel mehr Privatisierung und einen stärkeren Personalabbau im öffentlichen Dienst vorstellen als wir.

RATZMANN: Die SPD hat doch schon alles privatisiert, was möglich war. Wir sind zwar für Personalabbau, halten aber die Senatsplanung von 90 000 Stellen bis 2015 für überzogen. Gleichzeitig verweigert sich die SPD der Diskussion über eine Aufgabenkritik. Das ist unlauter.

MÜLLER: Die Zahl 90 000 ist eine rechnerische Größe. Die Verwaltungen müssen natürlich leistungsfähig bleiben, das stellen wir mit Neueinstellungen sicher.

Ist Jamaika in der Opposition tot? Ist das Tischtuch zwischen Grünen und FDP zerschnitten?

RATZMANN: Wir haben immer gesagt: Es gibt keine Koalition in der Opposition, aber eine gute Zusammenarbeit. Der Senat hat zu spüren bekommen, dass eine solche Zusammenarbeit der Oppositionsfraktionen Schlagkraft entwickeln kann.

Also schließen Sie eine weitere Zusammenarbeit mit der FDP in der Opposition doch nicht kategorisch aus?

RATZMANN: Die FDP hat der Zusammenarbeit die Grundlage entzogen. jetzt wollen sie wieder mit uns reden. Wir werden uns anhören, was sie zu sagen haben.

Herr Müller, ist Rot-Rot in Berlin nach fast zehn Jahren ein Auslaufmodell?

MÜLLER: Wir arbeiten nach wie vor gut und vertrauensvoll zusammen. Es gibt einige Projekte, die wir gemeinsam noch in dieser Legislaturperiode bewegen wollen: Etwa die Umsetzung der Bildungsreform, Reformen im sozialen Bereich, das Klimaschutz- und Integrationsgesetz.

Aber bei einigen Themen knirscht es heftig, wie bei der A 100.

MÜLLER: Wir sind konkurrierende Parteien. Dass man nicht hundertprozentig übereinstimmt, ist normal. Aber es gibt ein Vertrauensverhältnis und keiner profiliert sich auf Kosten des anderen. Auch deshalb ist die Koalition erfolgreich.

RATZMANN: Dass es in einer Koalition auch Streit geben kann, ist klar. Aber dass ein Jahr vor dem Ende der Legislaturperiode ernsthaft eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags diskutiert wird, habe ich noch nicht erlebt. Ich habe den Eindruck, dass SPD und Linke keine Gemeinsamkeit mehr haben, die großen Probleme der Stadt zu lösen.

MÜLLER: Die Gemeinsamkeiten habe ich gerade benannt. Es gibt kein Zerwürfnis zwischen SPD und Linken, und der Koalitionsvertrag wird auch nicht neu verhandelt. Bei der A 100 diskutieren wir nur, ob Beschlüsse, die vor drei Jahren gefasst wurden, heute noch richtig sind.

Wollen Sie signalisieren: Rot-Rot will über 2011 in jedem Fall hinaus weitermachen?

MÜLLER: Nein. Wir legen uns jetzt nicht auf künftige Regierungsbündnisse fest. Wir wollen stärkste Kraft bleiben, dann sehen wir weiter. Aber ich frage mich, wie die Grünen mit ihrem Wunschkoalitionspartner CDU in Fragen der inneren Sicherheit, Bildungs-, Integrations- und Umweltpolitik zusammenarbeiten wollen. Wenn Sie schon Rot-Rot Zerwürfnisse unterstellen, was wäre dann Schwarz-Grün? Ein Kriegszustand?

RATZMANN: Genauso wie Sie halten wir uns bislang alle Optionen offen. Wir machen eine eigenständige grüne Politik. Bei der Wahl 2011 kämpfen Grüne und SPD um Platz eins.

MÜLLER: Sie liebäugeln doch mehr oder weniger offen mit Schwarz-Grün. Das wäre allein aus sozialer Sicht ein Horror!

RATZMANN: Sie haben doch Ihre eigenen Erfahrungen mit der CDU. Die große Koalition bis 2001 hat die Stadt in den Ruin getrieben. Die Grünen werden genau ausloten, wer mit uns gemeinsam die Probleme lösen kann. Dazu gehört auch, zu akzeptieren, dass Berlin eine hochpolitische, sensible und sehr partizipative Bevölkerung hat, die viel mehr in das Regierungs- und Verwaltungshandeln eingebunden werden will. Berlin braucht einen anderen Regierungsstil.

Die Grünen sind im Aufwind. Herr Ratzmann, was ist das grüne Erfolgsmodell?

RATZMANN: Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Nachhaltigkeit, Dialogorientierung, Beteiligung, konstruktive Auseinandersetzung. Unsere Themen sind die Themen der Zukunft.

Was setzen Sie dem entgegen, Herr Müller?

MÜLLER: Ich staune immer wieder über diesen selbstgerechten Alleinanspruch der Grünen auf Moral und Glaubwürdigkeit. Wenn sie in Regierungsverantwortung kommen, sieht es anders aus. So wie in Hamburg mit Schwarz-Grün, da ist von diesen Ansprüchen nicht viel übrig. Das Kohlekraftwerk Moorburg wird gebaut, der Skandal um die HSH-Nordbank wird nicht aufgeklärt, die Elbphilharmonie kostet 350 statt 70 Millionen Euro. Man sieht: Die Grünen machen nicht alles besser, auch wenn sie es behaupten.

Sind die Grünen nur glaubwürdig in der Opposition?

RATZMANN: Nein, wir sind auch glaubwürdig in der Regierung. Das gilt für Hamburg, Bremen und das Saarland. Und ich erinnere an die enge Zusammenarbeit von Grünen und SPD in Nordrhein-Westfalen. Dort hat die SPD-Kandidatin Hannelore Kraft den Erfolg der Grünen gerne in Anspruch genommen.

Herr Müller, was ist das sozialdemokratische Politikmodell?

MÜLLER: Bildungs-, Integrations- und Stadtentwicklungspolitik, genauso wie die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Wir leben in einer Großstadt, in der unterschiedlichste soziale Milieus aufeinandertreffen. Die SPD steht für sozialen Ausgleich und Chancengleichheit wie keine andere Partei.

Die SPD will 2011 mit Klaus Wowereit weitermachen, aber wer vertritt dann das grüne Modell? Renate Künast?

RATZMANN: Erst die Inhalte, dann die Personen. Wer den Wahlkampf anführt, wird Ende des Jahres entschieden.

Hätte die SPD Angst vor Frau Künast als Spitzenkandidatin der Grünen?

MÜLLER: Nein, überhaupt nicht.

RATZMANN: Herr Wowereit hat Angst.

MÜLLER: Einen ängstlichen Eindruck macht Wowereit wirklich nicht. Wenn Künast Spitzenkandidatin werden sollte, wäre das eine von den Grünen herbeigesehnte Verstärkung vonseiten der Bundesebene. Und es wäre ein interessanter Wahlkampf mit Wowereit und Künast.

Reicht zwischen SPD und Grünen das Vertrauen, um gemeinsam zu regieren?

MÜLLER: Wie schon gesagt, es gibt eine gute fachpolitische Zusammenarbeit und gegenseitige Achtung auf Führungsebene – nicht mehr und nicht weniger.

Was macht die SPD, wenn die Grünen stärkste Partei werden?

MÜLLER: Ich kämpfe für die SPD als führende Regierungspartei.

RATZMANN: Wer 2011 Platz eins belegt, wird zwischen Grünen und SPD ausgemacht. Ich hoffe auf einen fairen Wahlkampf und dazu gehört, dass auch die SPD Wahlergebnisse akzeptiert.

MÜLLER: Das ist doch wieder die typische Selbstgerechtigkeit der Grünen. Es ist für sie jetzt schon klar, dass sie ganz vorn mitspielen.

RATZMANN: Wir sind auf Augenhöhe, Herr Müller. So wie die Meinungsumfragen aussehen, zeichnet sich eine direkte Auseinandersetzung zwischen Grünen und SPD ab. Wowereits Attacken zeigen ganz deutlich, dass wir inhaltlich und personell in der Lage sind, der einzige ernst zu nehmende Herausforderer zu sein.

Wäre für die SPD, wie in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt eine Koalition mit der CDU denkbar?

MÜLLER: Die CDU ist weit davon entfernt, ein Zukunftsmodell für Berlin formulieren zu können, vom Personal ganz zu schweigen. Es fällt schwer, sich ein solches Bündnis vorzustellen.

RATZMANN: Das wäre eine Horrorvorstellung. Der CDU fehlen wegweisende Zukunftsmodelle und auch bei der SPD fehlt mir beim Klimaschutz und in der Wirtschaftspolitik ein klares Konzept. Aber soweit es die Wirtschaft, vor allem die Industrie betrifft, könnten sich Grüne und SPD sicher schnell einigen, wie man die Wirtschaft nachhaltig stärken kann.

MÜLLER: Da gebe ich Herrn Ratzmann recht. Auch in der Bildungspolitik sind wir uns ja in weiten Teilen einig.

Das hört sich alles so harmonisch an.

RATZMANN: Naja, die Kinderbetreuung ab dem dritten Jahr auch für Spitzenverdiener kostenfrei zu stellen, halten wir angesichts der Haushaltsnotlage für falsch.

MÜLLER: Die Bildung muss prinzipiell gebührenfrei sein. Damit entlasten wir auch den Mittelstand. Die Qualität der Kitas haben wir ebenfalls mit mehr Personal deutlich verbessert.

Wenn es bei der Wahl 2011 für Rot-Grün nicht reicht. Würden beide Parteien auch Rot-Rot-Grün aushalten?

MÜLLER: Dreierkonstellationen sind immer schwierig, das wäre auch bei Jamaica oder einem Ampelbündnis so. In der Regel versuchen immer die beiden kleineren Parteien, sich auf Kosten der größeren zu profilieren. Aber wenn der Wählerauftrag so ist, dann ist es eben so.

RATZMANN: Ich möchte nicht vorschnell den Anspruch aufgeben, mit einem Zweierbündnis zu regieren. Aber wir wissen derzeit nicht mal, ob es 2011 beim Fünfparteiensystem im Abgeordnetenhaus bleibt. In jedem Fall werden sich die Grünen einer konstruktiven Auseinandersetzung mit allen im Parlament vertretenen Parteien nicht entziehen.

Das Gespräch führten Sabine Beikler und Ulrich Zawatka-Gerlach.

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