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Seit Jahren prangern nicht nur Amtsmitarbeiter, Lehrer und Sozialarbeiter die Vernachlässigung des Jugendbereichs an.

©  Christian Mang / Imago

Update

Studie im Auftrag von Berlin-Mitte: Überforderung der Jugendämter beeinträchtigt Schutz der Kinder

Familienhilfe krankt überregional an Personalnot. Das zeigt eine Studie der Uni Koblenz. Im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg etwa sind weiterhin 30 Prozent der Stellen unbesetzt.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen krankt an einer Überforderung der Jugendämter. Das belegt eine Studie der Hochschule Koblenz zu den Sozialen Diensten der Jugendämter, die am Montag vorgestellt wurde. Demnach gibt es zu wenig Personal für zu viele Fälle, zu hohen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand und eine unzureichende Ausstattung für die Mitarbeiter, die Kinder vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch schützen sollen. Für die Studie im Auftrag des Jugendamts Berlin-Mitte wurden bundesweit 652 Mitarbeiter aus 175 Jugendämtern befragt.

Die Studie bestätigt all jene, die seit Jahren den personellen Notstand in den Jugendämtern beklagen und gravierende Veränderungen fordern. So meldeten sich am Montag gleich der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zu Wort und erneuerten den Ruf nach einer besseren Bezahlung und mehr Personal. Inzwischen komme in Berlin bereits die Mitwirkung bei Schulhilfekonferenzen und familiengerichtlichen Verfahren „nur noch in Ausnahmefällen“ zustande. Selbst bei Kinderschutzfällen müssten Abstriche gemacht werden.

Monatelanges Warten

Was das konkret bedeutet, beschreiben Betroffene: Selbst Kinder, die wegen einer Legasthenie vom Sitzenbleiben bedroht sind, müssten monatelang auf Bescheinigungen warten, wie eine Mutter dem Tagesspiegel berichtete. Neben der Gefahr einer vermeidbaren Klassenwiederholung beschreibt eine Krankenhausärztin in Tempelhof-Schöneberg die weiteren möglichen Folgen: Die Kinder könnten dann „eine emotionale Störung mit negativ gefärbtem Selbstbild oder eine Schulangst entwickeln“. Dieselbe Ärztin berichtet, dass sich mitunter Kinder mehrere Wochen oder Monate nach stationärem Aufenthalt abermals in der Ambulanz einfänden, weil die Eltern die zuständigen Mitarbeiter im Regionalen Sozialen Dienst des Jugendamtes nicht erreicht hätten. Zudem gebe es „im Moment immer wieder Anfragen von verzweifelten Eltern“, die um stationäre Behandlung ihrer Kinder bäten, weil sie in der Jugendhilfe keine Termine bekämen. Als Beispiele nennt sie Schulabstinenz, aggressives Verhalten oder Delinquenz.

Wie mehrfach berichtet, gab es seit über einem Jahr immer wieder Brandbriefe – von freien Trägern der Jugendhilfe ebenso wie von allen Jugendamtsleitern. Zuletzt hatten sich Mitarbeiter des Jugendamts Tempelhof-Schöneberg im März mit einem Brandbrief gemeldet, wo die Zahl der freien Stellen zuletzt am höchsten war: Während im März berlinweit 15 Prozent der Stellen – 141 von 889 – im Regionalen Sozialen Dienst vakant waren, waren es in Tempelhof-Schöneberg sogar fast 30 Prozent.

Scheeres bemüht sich um bessere Bezahlung

Die Senatsverwaltung für Jugend bekräftigte, dass sich Senatorin Sandra Scheeres (SPD) auf Landes- und Bundesebene für eine bessere Bezahlung der Sozialarbeiter stark mache. Sie wies darauf hin, dass die Besetzungsverfahren in den Bezirken zum Teil sehr lange dauerten. Die Studienleiterin an der Hochschule Koblenz, Kathinka Beckmann, betonte, den Fachkräften fehle bundesweit nicht nur Zeit für ihre Einzelfälle, sondern auch das Wissen um strukturelle Verflechtungen und die Möglichkeit der Weitergabe von Erfahrungen. In einem Drittel der Sozialen Dienste gebe es keine Einarbeitung, bei zwei Dritteln sei die Einarbeitungszeit zu kurz. Die meisten Fachkräfte betreuten 50 bis 100 Fälle, teils mehr. Auch dies betrifft Berlin: Zwar soll rein rechnerisch ein Mitarbeiter für 69 Fälle zuständig sein, wegen der vielen freien Stellen sind es aber in manchen Bezirken über 100. Durch minderjährige Flüchtlinge sei die Fallzahl noch gestiegen, betonte Beckmann zudem. Der Studie zufolge bleibt etwa für Hausbesuche bei betroffenen Familien häufig zu wenig Zeit. Etwa zwei Drittel der Arbeitszeit werde für die Falldokumentation aufgewendet. Nur 37 Prozent entfielen auf Kontakte mit den Betroffenen.

Weitere Werbemaßnahmen geplant

Um die Arbeit zu erleichtern, werde ein neues System eingeführt, das die Mitarbeiter bei ihren administrativen Aufgaben unterstützen solle, indem es den elektronischen Zugriff bei Hilfeverfahren, Kinderschutzverfahren und Gerichtsverfahren erleichtere, berichtete die Jugendverwaltung. Im Übrigen liefen derzeit in allen zwölf Bezirken Stellenbesetzungsverfahren. Der Senat „rät“ den Bezirken, die tarifrechtlichen Spielräume – etwa durch die Vorwegnahme von Erfahrungsstufen – zu nutzen, um mehr Bewerber gewinnen zu können. Zudem plane die Jugendverwaltung derzeit verschiedene Werbe- und Informationsmaßnahmen und habe eine Vereinbarung mit den Hochschulen getroffen, wonach die Tätigkeit im Jugendamt wieder stärker im Studium berücksichtigt werden müsse.

Keine Besserung in Tempelhof-Schöneberg

Auch der besonders betroffene Bezirk Tempelhof-Schöneberg äußerte sich auf Anfrage zu der prekären Situation. Tatsächlich hätten im Rahmen eines "strukturierten Notprogramms" einige Dienstleistungen des regionalen Sozialdienstes eingeschränkt oder sogar "eingestellt" werden müssen. Es käme auch bei Anträgen auf Hilfe zur Erziehung "in weniger dringenden Fällen" tatsächlich zu Wartezeiten und Verzögerungen in der Bearbeitung, räumte Jugendstadtrat Oliver Schworck (SPD) ein. Zu den Zitaten der genannten Krankenhausärztin teilte er mit, diese "Meinungsäußerungen" schienen eher "den Eindruck einzelner Personen wiederzugeben und nicht die Gesamtsituation adäquat darzustellen".

Schworck wies darauf hin, dass im Rahmen der Notprogramm-Regelung administrative Verfahren verkürzt und vereinfacht wurden, "so dass zum Beispiel Anträge auf Lerntherapie deutlich schneller bearbeitet werden als hier angegeben".

Fast jede dritte Stelle ist unbesetzt

An der angespannten Personallage hat sich allerdings nichts verbessert. Im Gegenteil. Die im März festgestellte Quote von knapp 29 Prozent unbesetzten Stellen ist sogar leicht auf über 30 Prozent gestiegen: "Von möglichen 90 zu besetzenden Stellen sind derzeit 27,67 Stellen unbesetzt", schreibt Schworck. Und von diesen rund 60 verbliebenen Mitarbeitern seien mitunter nur "unter 50 bis maximal 70 Prozent" anwesend. Ob bedingt durch Krankheit, Fortbildung oder Urlaub, ließ Schworck offen. Rein rechnerisch bedeutet dies, dass von den 90 eigentlich benötigten Mitarbeitern mitunter nur 30 bis 40 auf ihrem Posten sind. Alle kinderschutzrelevanten Tätigkeiten würden aber von den Mitarbeitern der regionalen Dienste mit Unterstützung weiterer sozialpädagogischer Fachkräfte des Jugendamtes sichergestellt, so Schworck. Zum Vergleich: Vor einem Jahr war jede fünfte Stelle offen, und bereits damals konnten nicht alle Aufgaben erfüllt werden. Damals hängten Jugendamtsmitarbeiter in mehreren Bezirken aus Protest weiße Laken aus den Fenstern, um auf die bedrohliche Lage hinzuweisen.

Auf die Frage nach Gegenmaßnahmen berichtete Jugendstadtrat Schworck, dass Anfang Mai eine erneute Stellenausschreibungen für knapp 30 Stellen.erfolgte. Im Rahmen dieser Stellenbesetzung würden "alle tariflichen Möglichkeiten ausgeschöpft, um Bewerberinnen von einer Tätigkeit im Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg zu überzeugen". Darüber hinaus arbeitete der Bezirk an der Umsetzung eines Sofortprogramms mit dem Ziel, "die Attraktivität der Tätigkeit im Regionalen Sozialen Dienst zu erhöhen". Man sei "intensiv bemüht", auf Fachveranstaltungen, Jobmessen und sozialen Medien sowie über private Kontakte nach möglichen künftigen Mitarbeiterinnen zu suchen.

(mit KNA)

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