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Sven Hannawald: „Meine Welt bestand nur aus mir und meinem perfekten Sprung“

Skiflug-Weltmeister Sven Hannawald im Interview über die Ursachen seines Burn-outs und seine aktuelle Tätigkeit als Sportkommentator.

Herr Hannawald, vor über zehn Jahren haben Sie bekannt gegeben, dass Sie an einem Burn-out litten. Wie geht es Ihnen heute?

Danke, gut. Seit den letzten sechs Jahren fühle ich mich wieder gesund und freue mich auf den Alltag. Klar hat man jetzt nicht mehr dieselben Pflichten wie früher als Leistungssportler. Aber Sport liegt bei mir nach wie vor einfach im Blut und ich finde in dem Bereich immer wieder eine Aufgabe, die mich bindet und interessiert. Dabei achte ich jetzt allerdings im Vornhinein darauf, dass nicht die Gefahr besteht, mit der neuen Aufgabe genauso zu enden wie damals beim Skispringen. Denn wenn man ein Burn-out einmal erlebt hat, weiß man, wann es wieder brenzlig wird, und geht keine Kompromisse mehr ein.

Als Skispringer sammelten Sie olympische Goldmedaillen, gewannen die Vierschanzentournee in allen vier Wettbewerben und wurden Skiflug-Weltmeister – das klingt nach einem erfüllten Sportlerleben. Aber waren durch ein hartes Training, die Belastungen der Wettkämpfe und die starke Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit psychische Belastungen nicht förmlich programmiert?

Nein, heute weiß ich, dass das nicht die ursächlichen Faktoren waren. Beim Training und bei Wettkämpfen war mein Ziel immer der perfekte Sprung – und ob ich den vor drei Leuten oder vor 50 000 Zuschauern hinkriege und nebenbei Interviews gebe, war mir im Prinzip egal. Ich hatte mich in einer Welt befunden, die nur aus mir und meinem perfekten Sprung bestand. Alles andere konnte ich ausblenden. Ich glaube, die meisten Menschen denken automatisch, dass das ganze Drumherum bei einem Burn-out ausschlaggebend ist. Allerdings habe ich über mich selbst gelernt, dass so etwas vor allem eine persönliche Sache ist.

Warum spielt die Persönlichkeit dabei so eine große Rolle?

Weil ein Burn-out dann passiert, wenn man einen vermeintlichen Weg zum Erfolg geht, der auf Dauer für einen selbst nicht gesund ist – dabei aber denkt, dass dieser Weg notwendig ist und man ihn selber so will. Klar, sich auf ein Ziel zu orientieren, ist wichtig. Das denke ich auch heute noch. Aber wenn man sich mit allem, was man hat, in eine Sache hineinsteigert, riskiert man psychische Probleme. Unterm Strich hängt ein Burn-out davon ab, welcher Typ man ist.

Und was für ein Typ waren Sie damals?

Einer, dem es schon immer darum ging, seine Aufgabe so perfekt wie möglich zu erledigen. Leider konnte ich dabei nie abschalten, ich kam mir wie ein Hamster in einem Rad vor, der es so schnell antreibt, dass er nicht mehr bremsen kann. Das fiel mir im Nachhinein vor allem daran auf, dass ich mich teilweise über Wettkämpfe, die ich gewonnen hatte, nicht mehr freuen konnte. Dann hatte ich sofort, als ich unten ankam, analysiert, welche kleinen Fehler vorlagen oder was ich hätte noch besser machen können. Andere gehen mit der ganzen Materie anders um, ein Martin Schmitt oder ein Gregor Schlierenzauer zum Beispiel, die können abschalten. Das ist eine Typfrage – die können auch nach einem schlechteren Wettkampf sagen, dass sie für heute Schluss machen und sich erst wieder beim nächsten Training damit beschäftigen.

Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Belastungen ein gesundes Maß überschritten?

Einen konkreten Zeitpunkt gab es nicht, das Burn-out entwickelte sich rückblickend betrachtet über Jahre. Mir selbst und anderen fiel jedoch auf, wie ich mich über die Zeit verändert hatte: Ich war generell sehr unruhig und konnte mich gedanklich und körperlich nicht mehr gut von einer Saison erholen. Ich hatte Schlafstörungen und war extrem müde. Die Trainer wussten auch nicht mehr, wie sie mit mir umgehen sollten. Sie merkten nur, dass ich mich öfter zurückzog und nicht mehr so wie früher für Späße zu haben war. Irgendwann kam es dann sogar so weit, dass ich bei den kleinsten Dingen angefangen habe, zu weinen. Ich fühlte mich so sensibel und schwach, dass ich mich selbst kaum wiedererkennen konnte. Spätestens da wurde mir klar, wie viel sich geändert hatte.

Wie sind Sie mit diesen Veränderungen umgegangen, als sie Ihnen selbst aufgefallen sind?

Ich wusste zu Anfang gar nicht, was mit mir los war. Damals vor über zehn Jahren wurde ja noch nicht so viel wie heute über psychische Erkrankungen gesprochen. Ich weiß noch, wie überrascht ich war und mitfühlen konnte, als in den Nachrichten über den Rücktritt des Fußballers Sebastian Deisler berichtet wurde. Was mich betrifft: Ich wusste, dass wenn ich mich krank fühle, ich keine 100 Prozent Leistung erbringen und damit das Training vergessen kann. Deshalb habe ich mich immer darum gekümmert, so schnell wie möglich wieder fit zu werden.

"Ich konnte mir die Zeit nehmen, die mein Körper brauchte"

Und an wen wandten Sie sich deshalb für professionelle Hilfe?

Zunächst recht schnell an unseren Mannschaftsarzt. Zu ihm hatte ich immer ein gutes Verhältnis, ich war aber auch noch bei anderen Ärzten. Ich wusste ja, wie gesagt, selbst nicht, wo diese Unruhe herkam. Also wurden diverse Blut- und Organuntersuchungen durchgeführt, bei denen aber nichts auffällig war. Nach anderthalb Jahren kam ich dann schließlich beim Facharzt für Psychosomatik an. Er konnte mir weiterhelfen und gab mir Adressen von einigen Kliniken, die sich auf die Therapie von Burn-out und psychischen Erkrankungen spezialisiert hatten. Es dauerte auch keine vier Wochen, bis ich in einer Klinik im Allgäu ankam. Mir war die Lage wichtig, denn sie befand sich von meiner alten Umgebung so weit fernab, dass ich das Gefühl hatte, rein räumlich nicht ans alte Leben erinnert zu werden.

Schulmediziner kommen oftmals mit dem Begriff des Burn-out schwer klar, da es wissenschaftlich bisher nicht als eine eigenständige Diagnose gilt. Wie gingen die Ärzte in der Klinik auf Sie zu?

Die Ärzte dort waren sehr einfühlsam und ich brauchte für sie keinen Grund, was warum gerade wie bei mir gewesen ist. Auch sie konnten zunächst organische Erkrankungen ausschließen. Außerdem gab es weitere Untersuchungen und Gespräche, in meinem Fall spielten viele Dinge eine Rolle: wie etwa das Leben an der Gewichtsgrenze, denn Skispringer müssen sehr auf ihr Gewicht achten. Oder wie ich als Person strukturiert bin und welche Erwartungshaltung ich an mich selbst habe. In der Klinik gab es zwei Abteilungen, eine für Burn-out und eine für „schwerwiegendere“ Fälle wie Selbstmordgefährdete.

Wenn Sie bei diesem Stichwort die Frage gestatten: Hatten auch Sie Suizidgedanken?

Nein, das glücklicherweise nicht. Das war übrigens auch eine der ersten Fragen der Ärzte, als ich in der Klinik ankam. So weit kam es bei mir nie, aber trotzdem denke ich, dass der Zeitpunkt für die Therapie damals der richtige war. Ich weiß noch, wie 2009 in den Medien über den Suizid des Torwarts Robert Enke berichtet wurde. Und wenn ich heute daran zurückdenke, dass ich mich nach drei oder vier weiteren Jahren ohne Therapie auf einem ähnlichen Weg hätte befinden können, war es umso besser, schnell zu handeln. Denn ich kann mir vorstellen, dass man ohne Hilfe vielleicht wirklich irgendwann nur noch in so einem Schritt die einzige Erlösung sieht. Das ist gefährlich und deshalb sollte man als Betroffener so früh wie möglich zum Arzt.

Wie sah die Therapie in der Klinik aus?

Ausgehend von der damaligen Situation hatte ich mich für eine Einzeltherapie entschieden, wobei ich im Nachhinein eine Gruppentherapie für besser halte, weil man sich unter Gleichgesinnten aufgehobener fühlt. Aber ich wollte damals einfach nicht, dass zu meinen aktiven Skisprung-Zeiten etwas Privates nach außen gelangt. Meine intensiven Einzelsitzungen hatten zum Ziel, mich selbst wieder kennenzulernen und mich selbst wiederzufinden. Dazu gehörten viele Gespräche mit meiner Therapeutin, in denen auch vieles aus der Kindheit aufgearbeitet wurde. Man lernt, sich Dinge eingestehen und gönnen zu dürfen. Man lernt, dem Körper die Ruhe wiederzugeben, die er dringend braucht. Und man kriegt wieder ein Gefühl dafür, wie man einen ausreichenden Abstand zum Stress im normalen Alltag hält.

Sie haben über Ihre Biografie ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“. Wie lange hat es gedauert, bis Sie wieder sicher gelandet sind?

Ich konnte mir glücklicherweise die Zeit nehmen, die mein Körper gebraucht hat. Das heißt, dass ich seit fünf bis sechs Jahren wieder normal durchschlafen kann und nicht mehr unruhig aufwache. Es gibt allerdings kein generelles Rezept, nach dem man in einer vorgeschriebenen Zeit wieder der Alte ist. Denn es kommt immer darauf an, wie lange und wie tief man in einem Burn-out steckt und wie das Umfeld, die Arbeit und die familiäre Situation aussehen. Manchen hilft beim Überwinden ein Hobby als Ablenkung vom Alltag, manchen hilft ein Umzug. Es ist in jedem Falle eine persönliche Angelegenheit und braucht seine Zeit, bis man wieder auf seine innere Stimme hört, die weiß, worauf man Lust hat oder was einem guttut.

Sie sind mittlerweile wieder sehr vielseitig aktiv, etwa im Motorsport, als Unternehmensberater oder ab dieser Wintersport-Saison 2016/17 als TV-Experte beim Skisprung. Wie ist das heute bei Ihnen, merken Sie bei all diesen Tätigkeiten gelegentlich, dass Sie dabei in alte Muster verfallen, oder können Sie dann gezielt gegensteuern?

Heute fange ich bei allem erst einmal ruhig an und schaue bewusst, dass ich mich nicht wieder zu sehr reinsteigere. Klar, ich bin immer noch ehrgeizig und perfektionistisch und werde das auch nie komplett loswerden. Und als ich mit 30 im Motorsport anfing, wollte ich am liebsten gleich die besten Zeiten fahren. Dann konnte ich aber besser als früher reflektieren, mich mit der neuen Aufgabe nicht wieder einem inneren Stress auszusetzen und mir nicht selber Vorschriften zu machen. Dieses Konzept erwähnen wir auch in Seminaren auf modernen Skisprungschanzen, die ich mit meinem Partner Sven Ehricht im Rahmen unserer neu gegründeten Unternehmensberatung gebe: Ich spreche in Talkrunden und Workshops über beruflichen Aufstieg, Karrieresprünge, Balance und warum die Gesundheit am Arbeitsplatz die Basis für den beruflichen Erfolg ist, zudem über Teamfähigkeit im Job und Privatleben und wie man am besten mit sportlichem Leistungsdruck umgehen kann. Mein neues Credo dabei ist: Ich möchte bei allem Sportlichen natürlich für mich das Beste erreichen und gebe mir Mühe, aber es geht mir heute vor allem um den Spaß bei der Sache.

Was ist nach diesen Erfahrungen Ihrer Meinung nach das Wichtigste im Umgang mit einem Burn-out und daher Ihr Rat für Betroffene?

Was ich Betroffenen oder potenziell Betroffenen mitgeben möchte, ist, dass sie sich ihren konkreten Zustand bewusst machen sollen – und sich dabei einen Weg eingestehen dürfen, der innerlich für sie zwar stimmig, aber mit Abstand betrachtet eher falsch scheint. Je länger man dabei den eingeschlagenen falschen Weg geht, umso mehr muss man zum Schluss ändern und umso länger und schlimmer wird es. Heute kann man sich umfassend informieren, es gibt viele Berichte und Sendungen zum Thema, anonyme Anlaufstellen im Internet oder im Ortsnetz oder direkte Kontaktdaten von Ärzten, Psychotherapeuten oder speziellen Kliniken. Jedem ist also freigestellt, wie er das für sich regelt. Wichtig ist nur, dass man den Weg dann tatsächlich auch geht und Hilfe annimmt.

Weitere Infos zum Thema finden Sie in der sechsten Ausgabe des Magazins „Tagesspiegel GESUND“ mit dem Schwerpunkt "Psyche". Neben Informationen zum Burn-out- Syndrom widmet sich die Ausgabe folgenden Themen: Winterdepressionen, Essstörungen, Psychopharmaka, Schizophrenie und wie immer: Vergleichstabellen mit den psychiatrischen Fachkliniken in der Hauptstadt. Das Magazin ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520.

Leonard Hillmann

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