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Berlin: Sybille Gustiné (Geb. 1927)

Die Hochzeitsreise geht nach Wandlitz. Sie bleiben drei Tage.

Sybille singt. Fast ihr ganzes Leben lang. Sie singt als Kind im Chor der Kinderlandverschickung. Als Mädchen in den Jahren nach dem Krieg für die Amerikaner, sie bringt in ihren Manteltaschen puderzuckrige Doughnuts mit nach Hause, das ist die Gage zu dieser Zeit. Sie singt im Berliner Oratorienchor, zu Hause mit den Kindern, auf Reisen mit der Familie. Sie singt, weil sie die Musik und die Gemeinschaft liebt.

Auf einem Gruppenfoto aus den vierziger Jahren sitzt sie in der ersten Reihe, ein dramatisch schönes Mädchen mit dicken, lockigen Haaren, hellen Augenbrauen und blonden Wimpern, ihr Gesichtsausdruck ist amüsiert, wach und selbstbewusst. In der letzten Reihe auf diesem Foto steht scheu und zurückgezogen ein ernster junger Mann. Das ist Rolf Gustiné, der weiß, dass er mit dem leuchtenden Mädchen in der ersten Reihe sein ganzes Leben verbringen will, Sybille ihrerseits weiß noch nichts davon.

Sie heiratet Rolf 1950 auf dem Standesamt in Schmargendorf, sie trägt ein geblümtes Kleid, in der linken Hand einen Rosenstrauß, ein halbes Jahr später wird ihre Tochter Margit auf die Welt kommen. Die Hochzeitsreise geht im September nach Wandlitz zur Großtante, der Wald ist schon herbstlich und die Seeufer liegen still, sie bleiben drei Tage, dann müssen sie zurück nach Berlin.

Das erste gemeinsame Zuhause ist ein Zimmer in der Wohnung von Rolfs Eltern. Das zweite die Wohnung der Großmutter. Dann endlich, als die Tochter Sabine geboren wird, eine Wohnung mit drei Zimmern in der Schillerhöhe. Rolf arbeitet für eine Hausverwaltung, Sybille, die Abitur gemacht hat und Medizin studieren wollte, zieht die Töchter groß. Rolf wird Genossenschaftsvorstand, Sybille engagiert sich im Seniorenclub der Genossenschaft, auf Kinderfesten, in der Schule der Töchter als Elternvertreterin. Fotos aus dieser Zeit zeigen eine große, strahlende, glückliche Frau. Sich einzusetzen, sagen die Töchter, das hätten sie zu Hause gelernt. Nicht klein beizugeben, sondern streitbar zu sein und sich wieder zu versöhnen, einzustehen für das, was man liebt.

Reisen gehen nach Holland, Frankreich, an die Ostsee und immer wieder nach Schweden auf einen Gutshof in Smbland. Als die Töchter aus dem Haus sind und es stiller wird, beginnt Sybille in der Seniorenbetreuung der französischen Kirche zu arbeiten und kommt dem Traumberuf noch einmal nah. Sie reist im hohen Alter nach Ungarn, Italien und Japan. Singt am liebsten die Dvobak-Messe und hört mit dem Singen erst auf, als sie an ihrem Platz im Chor vor Schmerzen nicht mehr stehen kann. Da ist sie über siebzig Jahre alt.

Sie findet in ihrem Leben lange Zeit einzig die Flugzeuge über der Schillerhöhe störend – immer, sagt die Familie, war Sybille ein zärtlicher und optimistischer Mensch. Sich pflegen lassen zu müssen, passiv zu sein, fällt ihr schwer. Spät kommen die Erinnerungen an die Kindheit im Krieg zurück, die Bilder von Schutt und Asche, das Trauma, verschüttet gewesen zu sein. Klaustrophobie und Dunkelheit.

Der Blick aus dem Fenster des Seniorenheims, in das Rolf und Sybille im letzten gemeinsamen Sommer ziehen, geht auf einen Ziergarten, einen kleinen Teich und wilden Wein hinaus. Das Seniorenheim heißt Nova Vita. Es wird kein neues Leben mehr geben. Die neun Schrauben, die am Ende Sybilles Rücken gerade halten, hat Rolf aufgehoben.

Wofür steht der chinesische Drache, das Geschenk der Tochter, über dem Wohnzimmertisch? Für Kraft. Und Stärke. An der Wand in Sybilles Zimmer hängt ein kleines Gemälde, seit Jahrzehnten im Besitz der Familie. Die Blumenfrauen vom Potsdamer Platz, Berlin in den zwanziger Jahren im Winter. Es ist neblig und die Bäume sind kahl, die Blumenfrauen tragen schwarze, schwere Kleider, aber ihre roten Sträuße leuchten hell in der Dämmerung. Dora Winkelmann

Dora Winkelmann

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