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Die Teilnehmer des Fachforums mit Moderatorin Annette Kögel (r.), Jörg Pilawa (3. v.r.) und Tagesspiegel-Chefredakteur Online Christian Tretbar (l.).

© Steffen Junghanß

Tagesspiegel Fachforum Gesundheit: Wie sieht die künftige Rheuma-Versorgung aus?

20 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer rheumatischen Erkrankung. Jetzt hat sich ein Tagesspiegel-Fachforum diesem komplexen Krankheitsbild gewidmet.

Nein, zu Rheuma hätte es in seinen Shows noch keine Quizfrage gegeben, erzählt Jörg Pilawa. Was nicht wirklich verwundert, ist doch dieses Krankheitsbild mit über 100 verschiedenen Ausprägungen viel zu komplex, um es in eine griffige Quizfrage zu pressen. Dennoch ist Pilawa das Thema alles andere als fremd, der Fernsehmoderator ist offizieller Botschafter für Kinder und Jugendliche in der Deutschen Rheuma-Liga. Jetzt hat er beim Fachforum Gesundheit des Tagesspiegels zum Thema „Konstant in Bewegung – wohin geht die Rheuma-Versorgung?“ den Eröffnungsvortrag gehalten. Und eindringlich von der Odyssee, um nicht zu sagen: der Passion seiner Tochter erzählt, die lange geschwollene Knie- und Sprunggelenke hatte, ohne zu wissen, warum. Eine eindeutige Diagnose bekam sie erst im Deutschen Zentrum für Kinder- und Jugendrheumatologie in Garmisch-Partenkirchen. Die beiden früheren Skistars Christian Neureuther und Rosi Mittermeier – die neben dieser Klinik wohnen und sich stark für sie engagieren – waren in einer Sendung von Jörg Pilawa aufgetreten, hatten ihm anschließend den Tipp gegeben: Probiert’s unbedingt mal dort. Mit seiner persönlichen Familiengeschichte („Hat ein Kind Rheuma, hat die ganze Familie Rheuma“) geht Pilawa seit einiger Zeit an die Öffentlichkeit, um die wichtige Botschaft zu verbreiten: Rheuma ist nicht nur eine Krankheit älterer Menschen. „Es gibt Kinder- und Jugendrheuma. Und Betroffene brauchen eine Diagnose, so früh wie möglich.“

So früh wie möglich: Das war der Tenor des gesamten von Tagesspiegel-Redakteurin Annette Kögel moderierten Fachforums. Denn je früher eine Behandlung einsetzt, „desto größer ist später die Chance auf ein normales Leben“, wie Rotraut Schmale-Grede sagt, Präsidentin des Bundesverbands der Deutschen Rheuma-Liga. In zwei Diskussionsrunden wurde auf dem Forum der Status Quo der Rheuma-Versorgung in Deutschland heute erörtert – und die Perspektiven der Versorgungslandschaft der Zukunft. Dass Jürgen Braun vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie mehr Rheumatologen fordert („750 haben wir, 1400 bräuchten wir“), verwundert nicht. Ute Leonhardt vom Verband der Ersatzlassen (VDEK) widerspricht ihm ein Stück weit: „Der Ruf nach mehr Rheumatologen greift zu kurz. Es kommt auch darauf an, die Kooperation mit den Hausärzten zu verbessern.“ Die Hausärzte scheinen tatsächlich oft das Problem zu sein. Weil sie häufig rheumatische Erkrankungen nicht erkennen und deshalb viel kostbare Zeit verloren geht.

Christa Stewens, ehemalige bayrische Staatsministerin für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen.
Christa Stewens, ehemalige bayrische Staatsministerin für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen.

© Steffen Junghanß

Auch deshalb wurde an diesem Nachmittag im Tagesspiegel-Haus oft die Forderung erhoben, den gesamten Komplex Rheuma in der Ärzteausbildung stärker zu berücksichtigen. Das heißt auch: Mehr Lehrstühle. „In Bayern haben wir sieben medizinische Fakultäten, davon hat nur eine – in Erlangen – einen Lehrstuhl für Rheumatologie“, sagt Christa Stewens, die in München Staatsministerin für Arbeit, Familie und Frauen war und jetzt Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Kinderrheuma-Stiftung ist. Wie Jörg Pilawa verbarg auch Stewens nicht, dass ihr das Thema persönlich sehr nahe geht: Ihre Tanten, eineiige Zwillinge, waren beide an Rheuma erkrankt. Die eine starb blind und bettlägerig, die andere beging Selbstmord, um nicht dasselbe Schicksal erleiden zu müssen.

Vier Milliarden Euro im Jahr

In drei jeweils drei Minuten langen Kurzvorträgen, sogenannten Pitches, stellten Forscher spannende neue Projekte im Bereich der Rheumatologe vor – Kurt Zänker von der Universität Witten/Herdecke etwa erläuterte das Projekt Petra, das sich der Verbindung von Seele und Körper in der Psycho-Neuro-Immunologie widmet und somit völlig neue Perspektiven bei der Behandlung von Rheuma eröffnen soll. Es geht hierbei auch darum, die mit der Krankheit einhergehenden Gefühle wie Angst, Ärger, Depression, Zweifel in die eigene Lebens- und Arbeitswelt zu integrieren und sie zu steuern. Weitere Themen auf dem Fachforum waren die angeblich mangelnde Vernetzung der Rheumatologen untereinander (Jürgen Braun widersprach: „Es gibt zahlreiche rheumatologische Kongresse auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene, wer sich da nicht vernetzt, dem ist nicht zu helfen“) oder die hohen Kosten für Rheuma-Medikamente, die laut Ute Leonhardt vier Milliarden Euro im Jahr betragen; sie fordert behandelnde Ärzte auf, verstärkt das günstigere Medikament zu wählen – wenn Wirkung und Verträglichkeit gleich sind.

Philipp Sewerin (r.) von der Arbeitsgemeinschaft Junge Rheumatologie.
Philipp Sewerin (r.) von der Arbeitsgemeinschaft Junge Rheumatologie.

© Steffen Junghanß

Ein Orthopäde aus dem Publikum wies darauf hin, dass es gerade Orthopäden seien, die die Lücke zwischen Hausarzt und Rheumatologen schließen würden, das werde oft vergessen. Interessant auch, was Philipp Sewerin von der Arbeitsgemeinschaft Junger Rheumatologen zu erzählen hat: Dass nämlich die Karrierechancen in diesem Feld ausgesprochen gut seien. Weil es zu wenig Rheumatologen gibt, seien die Möglichkeiten viel größer als etwa in der Kardiologie. Seine an der Uni Düsseldorf angesiedelte Arbeitsgemeinschaft, die sich „rheumadocs“ nennt, sieht es als ihre Aufgabe an, bei Studierenden Begeisterung zu schaffen für die Rheumatologie. Ulrike Erstling vom Verband Rheumatologische Fachassistenz erläuterte die Bedeutung dieser spezialisierten Berufsgruppe.

Wie also sieht die Versorgungslandschaft der Zukunft aus? Hoffentlich mit mehr Rheumatologen auch auf dem Land, mit reibungsloser Transformation Volljähriger von der Jugend- in die Erwachsenenrheumatologie, mit starken digitalen Angeboten. Und: wieder mit mehr Schwimmbädern. Darauf nämlich wies im Publikum Helmut Sörensen, Vorsitzender der Rheuma-Liga Berlin, ganz zum Schluss des Fachforums hin: dass immer mehr öffentliche Bäder in Berlin schließen würden, was auch auf das Funktionstraining für Rheuma-Patientinnen und -Patienten direkte negative Auswirkungen haben würde. „Warum sieht sich die Stadt da nicht in der Verpflichtung, warum vernachlässigt sie dieses Thema so sträflich?“ Trotzdem hatte wohl keine und keiner der Teilnehmenden dieses Fachforums am Ende den Eindruck, dass die Rheuma-Versorgung der Zukunft wirklich baden gehen würde.

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