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Rot-Rot bei Rot-Weiß gegen Blau-Weiß: Gregor Gysi und Klaus Wowereit auf der Tribüne.

© dpa

Tagesspiegel-Ticker: Union gegen Hertha: Halbschlaf im Nebel

Hertha gegen Union. Es sollte das Spiel des Jahres werden, eine Berliner Meisterschaft, ein Festtag. Es wurde ein 90minütiger Sekundenschlaf, eine Partie wie ein Geisterfahrer. Und anders als Horst Seehofer konnte der Liveticker nicht ausweichen.

90.

Abpfiff. das Derby, das tagelang das Rauschen im Berliner Blätterwald bestimmt hat, zum Jahrhundert-Clash der Gegensätze hochgejazzt wurde, ist am Ende das fußballerische Gegenteil von seniler Bettflucht. Hertha spielt genau 60 Sekunden Fußball, geht mit 1:0 in Führung und zieht sich dann zurück in die Zwischenwelt des taktisch geordneten Halbschlafs, Union kämpft die restlichen 89 Minuten aufopferungsvoll, scheitert aber immer wieder an Mosquera. Bis Neuhaus Santi Kolk in die nächtliche Tristesse wirft, der, kaum eingewechselt, den am Ende doch verdienten Ausgleich erzielt. Der Rest ist das Gähnen eines Derby, das irgendwann vergessen hat, dass es eins sein sollte. Und so bleibt festzuhalten, dass arm, in diesem Fall an Höhepunkten, nicht immer sexy sein muss.

So wurde der Halbzeitauftritt Klaus Wowereits zum Highlight dieser Partie. Der Liveticker verabschiedet sich aus Köpenick und geht noch etwas im Mondschein dieser Nacht ohne Eigenschaften passieren. In diesem Sinne: Gute Nacht!

89.

An der Alten Försterei kehrt nun wieder eine herbstliche Idylle ein. Die Choreo der Hertha-Fans zitiert die sanften Dunst über der nächtlichen Wuhle, Neuhaus schmökert in seinem gebundenen Fontane und Markus Babbel versucht, aus den wenigen Kastanien, die den Weg über das Stadiondach auf den Rasen gefunden haben, seine Traumelf zu modellieren. Hat aber weniger Streichhölzer als seine Mannschaft offensive Ideen. Heraus kommt ein einarmiges Tiergebilde, das entfernt an Pitty Platsch erinnert. Zumindest gegen Ende noch einmal eine Form von Ostalgie.

87.

Trotz des unbefriedigenden Spielstandes ist von Hertha BSC, dem großen Favoriten, dem Frank Zander der Zweiten Liga nur so viel zu sehen, wie von Kevin Bacon in Hollow Man.

85.

Herthas Taktik der totalen Spielverschleppung ist nicht aufgegangen. Markus Babbel fällt der bayerische Hochmut aus dem Gesicht, wie zuletzt 1999 in Barcelona. Er blickt sich um. Doch er findet niemanden, der ihn wieder aufrichtet. Kein Kahn, kein Effenberg. Immer weitermachen, immer weiter machen. Doch die einzigen, die weiter machen, sind die Unioner, die jetzt auch den Heimsieg wollen. Aber an Mosquera scheitern.

83.

TOR! Wie aus dem Nichts, aus dem Nebel, aus der Nacht, der Ausgleich für Union durch den gerade erst eingewechselten Santi Kolk, der vorher schon wusste, dass er trifft, weil er in den Niederlanden immer gegen Aerts getroffen hat. Das hätte man auch bei Hertha BSC wissen können, wo man eigentlich seit Alex Alves an übernatürliche Phänomene glauben sollte. Nur ist es gerade in Berlin nicht unbedingt in Mode, auf Männer zu hören, die eine düstere Zukunft voraus sagen.-

72.

Weiter fußballerische Narkolepsie. Babbel wirft sich eine Handvoll Granufink, damit er bis zum Abpfiff nicht noch mal aus der REM-Phase schreckt. Und auch für seien Spieler gilt, wenn Union weiter so wenig zwingend bleibt: Weniger müssen müssen.

68.

Dass dieses Spiel eigentlich ein Derby sein sollte, bei dem das Faustrecht gilt, das Stadion brennt, man auf den erhitzten Gemütern Eier braten kann, ist im Nebel, in der Nacht, im Mondschein irgendwie in Vergessenheit geraten. Der Rest Rivalität erschöpft sich in den vereinzelten Gesangsduellen, deren Lieder aber auch nur wenig Hinweise darauf bieten, dass sie in blindem Hass komponiert wurden. Eher scheinen sie aus der Feder von Rolf Zuckowski zu stammen. Und die Kriegsbemalung wurde mit essbarer Fingerfarbe aufgetragen. Im Kartoffeldruck-Verfahren.

65.

Weiter eher Fußball aus der Betthupferl-Kategorie, ein Spiel, das man seinen Kindern vorlesen könnte, wenn einem selbst nichts mehr einfällt und man Janosch für reaktionär hält. Passend dazu ist nun auch der Mond über Köpenick aufgegangen. Der junge Perdedaj schaut verklärt, als suche er nach der Kordel am Ball, an der er ziehen kann. So wie früher an der lächelnden Pampelmuse. Eins schöner Tag zu ende geht.

60.

Brunnemann versucht das Spiel nun wieder in die Gegenwart zu schießen, aber Aerts lenkt den Ball zur Ecke. danach versinkt das Spiel wieder im Mittelfeld-Geplänkel, dem fußballerischen Äquivalent des Sekundenschlafs. Nicht nur, aber auch deshalb, macht es ganz den Anschein, als sei Hertha von der Fahrbahn abgekommen, kommt den Unionern so entgegen. Da kann Markus Babbel nur hoffen, dass die Köpenicker so gutherzig sind wie Horst Seehofer.

57.

Ohnehin hat man längst vergessen, dass dieser Mosquera einmal von Werder Bremen in die Bundesliga geholt wurde. Das wirkt seltsam unwirklich. In etwa so unwirklich wie Artur Wichniarek als Torschützenkönig der Zweiten Liga. Aber auch das gab es. Denn hin und wieder lässt das Schicksal sein ganz besonders verschobenes Verständnis von Humor erkennen.

54.

Mosquera ist bei Union jetzt ins offensive Mittelfeld gewechselt, wo er nun weiter weg vor dem Tor ist, um nicht ständig mit seinem eigenen Versagen konfrontiert zu werden. Das Ganze wirkt wie der Umzug in einen anderen Bezirk, um der Ex-Freundin nicht ständig im Bio-Supermarkt begegnen zu müssen.

50.

Bei Hertha BSC scheint sich der Nebel als erstes zu lichten. Großchance für Friend, der allein durch sein Körpergröße über dem dunklen Wolkenfeld thront. Nun hat er gänzlich freie Sicht, verfehlt das Tor aber trotzdem knapp. Christian Beeck, der nun, da der rauch sich verzogen hat, ein Debakel fordert, bestellt ein Trockennebel-Maschine bei einer nahe gelegne Eventagentur, für die er auch noch einen Gutschein hat, aus den Zeiten als er mit seiner TakeThat-Coverband unter dem Motto "Beeck for Good" durch Marzahn und Umgebung getourt ist.

46.

Das Spiel geht weiter. Viel Rauch um Nichts. Eine Zusammenfassung dieser Partie ist gleich nach dem Abpfiff als Reclam-Heft im Tagesspiegel-Shop erhältlich. Uwe Neuhaus unterstreicht in der Zwischenzeit die Wichtigkeit, ernst zu sein.

19:00 Uhr

Eigentlich sollte das Spiel jetzt wieder angepfiffen werden. Doch erst einmal erstickt diese zweite Hälfte im Nebel der Rauchschwaden, die aus dem Hertha-Fanblock über das Stadion zeihen. Ein kläglicher Versuch der "so genannten Hertha-Fans", wie der Sprecher auf Sky sie nennt, dem Spiel einen epischen rahmen zu geben, wie es anno dazumal der Natur im Spiel gegen Barcelona mit einem leichten Handstreich eines Tiefdruck-Gebiets gelang. Doch statt Champions-League-Gefühl droht hier jetzt ein Spielabbruch.

18:55 Uhr

In der Alten Försterei hat sich nun der regierende Bürgermeister Klaus Wowereit zwischen die Werbeblöcke geschoben. Steht da, wie er immer da steht. egal, ob auf rotem Teppich oder grünem Rasen, Wowereit lächelt das Lächeln, das ihm sein Make-Up-Artist in die Falten geschminkt hat und wippt den Kopf im Arm-aber-Sexy-Takt der Hauptstadt. Über das Spiel kann er nicht so viel sagen, über Renate Künast will er nichts sagen. Ist doch Derby hier und nicht Wahlkampf. Obwohl bei Wowereit eigentlich immer Wahlkampf ist. Dann verschwindet er wieder in Richtung Tribüne, um sich ein warmes Bad mit Volksnähe einzulassen.

45.

Abpfiff. Hertha führt im Hauptstadt-Derby zur Pause mit 1:0. und weil diese Stadt ohnehin verrückt spielt, führen sie gleichzeitig verdient und glücklich. Und das obwohl sie nur eine Minute lang tatsächlich Fußball gespielt haben. Die Unioner durften 44 Minuten lang, machen, was sie wollen, weil die Charlottenburger genau, wissen, was sie können. Ob das am Ende für einen Auswärtssieg reicht, wird die zweite Hälfte zeigen.

43.

Aerts jedenfalls konnte sich in den vergangenen zehn Minuten nicht über mangelnde Beschäftigung beschweren. Dass Hertha trotz allem mit einer Führung in die Pause gehen wird, ist jedoch nicht dem Holländer, sondern viel mehr der fehlende Killer-Mentalität der Unioner geschuldet, deren Stürmer entweder vergessen haben, dass sie mal welche waren (Mosquera) oder den Anschein machen, als könnten sie nur in der 3. Liga wirklich regelmäßig treffen, weil dort scheinbar die Tore auf beiden Seiten etwa 30 Zentimeter breiter und oben 20 Zentimeter höher sind. Vielleicht sollte sich Benyamina mal mit Gunter Sachs in Verbindung setzen.

42.

Noch einmal prüft Benyamina Herthas Keeper Aerts, der den Kommentator immer wieder zu wunderbaren Wortgebilden wie Not-Aerts verleitet. Sky: Lachen bis der Aerts kommt.

40.

Zwischendrin setzten die Eisernen allerdings immer wieder ein paar hektisch flackernde Highlights, kurze Lebenszeichen, die sich jedoch als ebenso vergänglich erweisen, wie die kurze Aktivphase Robert De Niros vor dem Taschentuchfinale in Zeit des Erwachens. Uwe Neuhaus versucht sich gestenreich als Robin Williams als Oberarzt, wirkt dabei aber eher wie Mrs. Doubtfire.

35.

Jetzt kühlt das Spiel auf den Ruhepuls von Rudolf Scharping ab. Unions Angriffe verhalten sich zum Spiel der Hertha wie ein Einrad-Akrobat zu Alberto Contador beim Zeitfahren der Tour de France.

32.

Ein Blick auf die Herkunftsländer der Akteure verrät, dass mit Mosquera und Ramos gleich zwei Kolumbianer dabei sind. So viele, wie sonst nur auf einer Hausparty in Köln, bei der die Gäste wie selbstverständlich über glühend heiße Kohlen laufen. Ein Anruf beim Platzwart der Alten Försterei klärt aber: Die Linien sind mit Kreide geweißt.

30.

Die Unioner sind vom Ausgleich nun wieder so weit entfernt wie der Berliner Haushalt. Vorne weiterhin Mosquera. Ein Stürmer schafft sich ab.

28.

Die Luft ist aus diesem Spiel entwichen wie aus einem Mariechenkäfer-Plastikball von Woolworth, den der Rowdy aus der Nachbarschaft böswillig in die Dornenhecke geschossen hat. Nach all der Vorfreude im Vorfeld, der Volksfeststimmung, der Jahrhunderteuphorie gleicht das Spiel nun einer Hochzeits-Feier, bei der sich die Braut nach drei Minuten in die Torte übergeben hat und die Band ausschließlich James-Last-Medleys vom Blatt spielt. Uwe Neuhaus an der Panflöte.

25.

Auf Herthas rechter Seite, wo früher noch Friedrich und Ebert ein Reichspräsidenten-Tandem bildeten, spielt jetzt ein Mann, dessen Name jeden Glücksrad-Kandidaten vor ein unlösbares Rätsel stellen würde. Nikita Rukavytsya, Australier mit ukrainischen Wurzeln wirbelt die Unioner Viererkette nach Belieben durcheinander. Und stiftet auch bei den Offiziellen der Eisernen Verwirrung. Der einzige Nikita, den sie kennen, schlägt normalerweise mit Schuhen auf Tische.

22.

Hertha im Gegenzug. Kobiashvili spielt Raffael frei, aber der Brasilianer kann mit so viel Platz nichts anfangen und scheitert an einer beginnenden Agoraphobie.

20.

Nächster Angriff für Union, der Ball kracht gegen die Latte, die noch vor dem Spiel von ein paar Unionern aus einer Eiche am Wuhle-Ufer geschnitzt wurde, um Kosten zu sparen. Sie hält. Wie Herthas Führung.

17.

Plötzlich aber dringt Mosquera in den Strafraum der Herthaner ein, wird von Lell eskortiert, wie sonst nur Michael Ballack von Lells Freundin. Es kommt auch hier zum Körperkontakt. Mosquera fällt, ganz Köpenick fordert einen Elfmeter, doch Schiedsrichter Brych hat nichts gesehen. Schaut weg, hört nicht hin, sagt nichts. Aber das kennen sie ja in Köpenick noch von früher, diese affige Dreifaltigkeit.

12.

Auf dem Platz erstarrt das Spiel kurz in einer Patt-Situation zwischen zwei Teams, von denen das eine nicht mehr machen muss, weil es sich auf einem Traumstart ausruhen kann und das andere gelähmt scheint, weil die Anzeigentafel ein Alptraum-Ergebnis zeigt. Bisher führt also auch das Westsandmännchen gegen seinen Kontrahenten mit dem Ulbricht-Bart mit 1:0. Union mit Sand im Getriebe.

10.

Jetzt der erste richtige Angriff der Unioner. Parensen wird über die Luftbrücke eingesetzt, bekommt eine Ecke, obwohl er sich auch mit Kaugummi zufrieden gegeben hätte. Doch statt einer großen, klebrigen Blase platzt eine Großchance im Fünfmeter-Raum der Herthaner, die völlig überrascht scheinen vom plötzlichen Zucken des schon tot geglaubten Nachbarn. Aber Mosquera scheitert an Kobiashvili, der auf der Linie retten kann. Ausgerechnet Mosquera, der seit etwa 42 Jahren, drei Monaten und elf Tagen nicht mehr getroffen hat. das zumindest haben irgendwelche Statistiker errechnet, die etwa ebenso lang keine Frau mehr zum essen ausgeführt haben.

7.

Markus Babbel steht mit der Aura des bayrischen Mia-san-mia-Selbstverständnisses an der Seitenlinie. Sein dunkler Anzug sitzt eng am Körper, als hätte man Herthas Cheftrainer direkt aus einem P&C-Katalog ausgeschnitten. 100% Cashmere, die Bügelfalte verläuft quer durch sein Gesicht. Er trägt den Weltmann wie ein Bodypainting von Versace. Babbel hat sich dem Anschein nach und dem Anlass angemessen als Hauptmann verkleidet, um hier in Köpenick mit seinem Trupp gutgläubiger Soldaten in kurzen Hosen den Bürgermeister festzunehmen, die Stadtkasse zu rauben, preußische Traditionen ins Lächerliche zu ziehen. Oder einfach nur dieses Derby zu gewinnen. Carl Zuckmayer jedenfalls hätte diesem Babbel eine Hauptrolle gegeben.

5.

Nervöses Zucken bei jedem Hertha-Angriff, die Spieler des 1. FC Union wirken aufgeregt wie junge Küken auf ihrem ersten Freiflug. Mosquera versucht hektisch sein noch verklebtes Gefieder zu richten. Noch kein Spiel über die Flügel.

3.

Das Spiel scheint entschieden, bevor es so richtig begonnen hat. Dem Kommentator gehen die Superlative aus. Er schweigt, schlägt noch einmal im Geschichts-Almanach unter "Berlin" nach. Union derweil mit einem ersten zaghaften Angriff. Aber Hertha schließt die Zufahrtswege. Beeck ruft in Tempelhof an, bestellt drei Rosinenbomber. Er hat vom letzten Geburtstag noch einen Gutschein übrig.

1. Minute

Anstoß. Hertha sofort mit ersten Angriff. Ein hohes Bein, ein Freistoß. Früh, wie gegen Bielefeld. Der ball fliegt in den Strafraum, wie gegen Bielefeld und in der Mitte kann Niemeyer unbedrängt einköpfen. Das Führungstor noch bevor die ersten Fans mit dem Singen aufgehört haben. Wie gegen Bielefeld. Hertha führt 1:0. das Derby ist entschieden. Die Völker dieser Welt schauen wieder auf sich selbst.

17:59 Uhr

19.000 Zuschauer in der Alten Försterei. Ausverkauft. Als Durchschnittsberliner an eine Karte für dieses Spiel zu kommen, war nahezu unmöglich. Außer man hat Kontakte zu Nina Hagen, die, wie erwähnt Kontakte nach ganz oben hat. Selbst Gregor Gysi, für den der Ausgang dieses Ost-West-Derbys auch über die Zukunft des real existierenden Sozialismus entscheidet, steht seit zweieinhalb Stunden vor dem Stadion, will wie 1990 für 5 Ostmark auf die Stehtribüne, wird aber von den Ordnern, die ihn durch eine krude Verwechslung für einen Handlanger des West-Sandmännchen halten, abgewiesen. Gysi. Links ab. Wie immer. Versucht es jetzt als Einlaufkind.

17:55 Uhr

Die Teams betreten den Rasen, die Union-Schals wiegen im Wind wie merkwürdige Lachse auf dem Trockenen. Der Sky-Kommentator begrüßt die Fans zum Spiel des Jahrhunderts, also mindestens. Zitiert Ernst Reuter, möchte dann, dass Herr Gorbatschow die Mauer einreißt. Pisa-Studie live.

17:53 Uhr

Nina Hagen vom band. Die Hymne der Eisernen. Herthas Fans versuchen mit einer freien Interpretation von Frank Zander dagegen zu halten, sind aber in etwa so gut hörbar wie ein einzelner Triangel-Spieler bei den Berliner- Philharmonikern. So laut wie ein pfeifen im Walde, das auch ungehört verhallt. kann aus Herthas Sicht also eigentlich nicht mehr viel schiefgehen.

17:50 Uhr

Den Bastelkleber von damals könnte Herthas Manager jetzt aber auch gut gebrauchen, besteht doch augenscheinlich die akute Gefahr, dass ihm jeden Moment die linke Augenbraue abfällt. Christian Beeck hat mit solchen Entgleisungen kein Problem, steht mit einem Gesichtsausdruck auf dem Rasen, als hätte bestehe sein Gesicht aus einem von ihm selbst bearbeiteten Findling aus einer nahe gelegenen Endmoräne.

17:47 Uhr

In der Alten Försterei herrscht bereits Kirmes-Stimmung, wie sonst nicht mal beim Auftritt von Frank Zander auf dem Oktoberfest am zentralen Festplatz. Aus den Boxen dringt ein zeitloser Charts-Mix, den Christian Beeck noch von seiner letzten Reise nach Lloret mitgebracht hat. Unions Manager selbst steht mit seinem Westberliner Widerpart Michael Preetz am Sky-Tresen und erklärt, warum Union auf das heimspiel in Köpenick bestanden hat: "Wenn man so viel Arbeit in ein Stadion gesteckt hat, ist es doch klar, dass man auch hier spielen will." Preetz nickt verständnisvoll. Er kennt das noch von früher. Da ist er in Düsseldorf auch nie beim Nachbarsjungen mit Modellautos spielen gegangen, wenn er gerade den Lichtsaal seines Puppenhauses neu eingerichtet hatte.

17:45 Uhr

Willkommen also zum Hauptstadt-Derby live aus Köpenick. Zur besten Vorabendsendezeit unterbrechen wir aus gegebenem Anlass die laufenden Sendungen und zeigen statt Forsthaus Falkenau heute Tollhaus Alte Försterei. Die Hauptstadt brodelt, das erste Pflichtspiel zwischen Hertha BSC und Union Berlin hat seine Schatten seit Tagen voraus geworfen und die Stadt mit einer wahlweise blau-weißen oder rot-eisernen Gänsehaut überzogen. Glaubt man zumindest den Sportseiten der Berliner Zeitungen befindet sich die Stadt in einem  Ausnahmezustand, den es seit der Wende nicht mehr gab. Parameter haben sich verschoben, die Superlative sind aufgebraucht und man wird das Gefühl nicht los, dass jeden Moment Blockschokolade an kleinen Fallschirmen vom Himmel regnen könnte.

Dabei vergisst man, dass heute nicht Kennedy, sondern allenfalls Uwe Neuhaus sprechen wird, dass Christo nicht den Reichstag sondern bengalische Nebel den Fanblock verhüllen werden. Und ganz sicher ist auch: Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten. Außer es gibt einen Freistoß in Höhe des Sechzehners.

Trotzdem darf aus Berliner Sicht euphoriebesoffen festgestellt werden: In Fünfzehn Minuten wird hier das erste Endspiel um die Berliner Meisterschaft angepfiffen. Das größte Spiel des Hauptstadtfußballs nach dem Mauerfall oder zumindest seit Winfried Schäfer aus Charlottenburg in die Emirate geflohen ist.

Auch, weil es ein Spiel der Gegensätze ist. Hier Union, der Underdog aus dem Osten, der sein Stadion selbst bastelt, nie Geld hat und zum Stürmer-Shoppen nach Babelsberg fährt, dort die neureiche aber ewig klamme alte Dame aus der Prekariatsschickeria, die sich Geld bei der Stadt pumpt und selbst als Zweitligist bei Bayern München einkaufen geht.

Nun stehen sie sich gegenüber wie die Gangs aus der Westside-Story, mit dem Klappmesser-Kamm im Anschlag und Schaum vor dem Mund.

Es ist mehr als ein Spiel. Und auch deshalb wäre für Ernst Reuter heute ein besonderer Tag. Denn für 90 Minuten ruhen die Augen wieder auf dieser Stadt.

Gleich geht’s los.

17:40 Uhr

Eilmeldung vor dem Anpfiff. Trotz der eindringlichen Bitte der Verantwortlichen des 1. FC Union, nicht mit dem PKW zur Alten Försterei zu kommen, hat Harald Ehlert seinen Maserati unmittelbar vor dem vor dem Eingang des Stadions geparkt. Seine Begründung: "Mit der Kutsche konnte ich nicht kommen, meine Ein-Euro-Jobber haben heute frei."

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