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Grüne Vorgärten. Typische Neubausiedlung mit Eigentums- und Mietwohnungen an der Frankestraße in Falkensee.

© Kitty Kleist-Heinrich

Tagesspiegel-Umlandserie (5): Boomstadt im Westen: Dornröschen ist erwacht

Falkensee ist die am schnellsten wachsende Stadt Deutschlands. Der Bauboom lockt junge Familien an, zwei Drittel aller Häuser sind Eigentum. Und vieles ist neu: Kitas, Schulen, Sporthallen ...

Wenn Jürgen Günther zeigt, wie sich die kleine Finkenkruger Welt um ihn herum verändert hat, stellt er erst mal den Rasenmäher ab. Dann breitet er wie ein Verkehrspolizist die Arme aus, weist nach rechts, nach links und vor und hinter sich und deutet dabei jeweils auf bestimmte Ein- und Zwei-Familienhäuser. Drei standen schon in Sichtweite, als der heute 67-jährige Pensionär 2000 in den Falkenseer Ortsteil Finkenkrug zog: Sein eigenes und zwei weitere weiß gekalkte Villen. „Alle anderen Häuser hier gab’s noch nicht“, sagt Günther, „überall wucherte Unkraut auf Brachen.“

2017 sieht es am stillen Poetenweg ganz anders aus: Neue Eigenheime reihen sich wie an der Perlschnur auf. Umrahmt von blühenden Gärten mit Schaukeln und Rutschen, unter Birken und Obstbäumen.

Seit der Wende hat sich die Bevölkerung verdoppelt

Falkensee nennt sich „Familienstadt im Grünen“ und „Stadt im Aufwind“. Beides bringt den Bauboom auf den Punkt, den die Kommune am Westrand des Berliner Bezirks Spandau und die angrenzende eigenständige Umlandgemeinde Dallgow-Döberitz seit den 90er Jahren erlebt haben. Falkensee ist die am schnellsten wachsende Stadt der Bundesrepublik. Seit der Wende hat sich ihre Bevölkerung von rund 21 000 auf 43 517 Ende 2016 mehr als verdoppelt. Wie im Zeitraffer wurden die verlorenen DDR-Jahre aufgeholt, als Falkensee im Schatten der Mauer lag. „Es waren die Jahrzehnte unseres Dornröschenschlafes“, sagt Bürgermeister Heiko Müller (SPD).

See vorm Haus. Zum Baden muss man in Falkensee nicht weit fahren. Der Falkenhagener- und der Neue See liegen gleich vor der Haustür.
See vorm Haus. Zum Baden muss man in Falkensee nicht weit fahren. Der Falkenhagener- und der Neue See liegen gleich vor der Haustür.

© Kitty Kleist-Heinrich

Müller (58) ist seit 2007 Rathaus-Chef. Er ist ein ruhiger, grauhaariger Mann und überzeugter Falkenseer. Seine Familie lebt in der dritten Generation in der Stadt. Vor den Fenstern des Bürgermeisterzimmers blühen rote Geranien, an den Wänden hängen Fotos von acht im Jahre 1908 entworfenen „Muster-Landhäusern“, die in Finkenkrug errichtet wurden. Sie sollten gut situierte Bürger motivieren, sich dort niederzulassen. 1923 wurden die Siedlungen Finkenkrug, Seegefeld, Falkenhagen und Falkenhöh zur Landgemeinde Falkensee vereint, aus der Zeit stammt das Rathaus an der Falkenhagener Straße.

Ein Netz schmaler Villenstraßen prägt die grüne Stadt

Jetzt projiziert der Bürgermeister Ortsansichten an die Wand. Falkensee aus der Luft. Ein Netz schmaler Villenstraßen, von Bäumen beschattet. Dazwischen einige Supermärkte, im Norden der Falkenhagener See mit einem wilden, aber gern genutzten Badestrand. Am Bahnhof die Stadthalle und eine Mini-Shoppingmeile, weiter südlich Dallgow-Döberitz am Rande des Naturschutz- und Wandergebietes Döberitzer Heide.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, in der Region leben nur Menschen im eigenen Haus. Tatsächlich beträgt der Eigenheimanteil etwa 70 Prozent. Siedlungen mit Mietwohnungen konzentrieren sich vor allem in Falkenhöh, wo der einstige Herlitz-Konzern ab Mitte 1992 eine Gartenstadt mit Stadtvillen, Reihenhäusern und Geschossbauten errichten ließ, eingebettet in intensiv genutzte Gärten.

Als in den Neunzigern immer mehr Berliner Familien nach Falkensee rauszogen, als sich zugleich Menschen aus ganz Deutschland dort niederließen, da begann die rasante Entwicklung. Rund 35 000 Bewohner sind heute Neu-Falkenseer. Alljährlich kommen 250 bis 500 hinzu. „Wir wurden wachgeküsst“, sagt Heiko Müller. Es ging extrem voran. Ist man in dieser Lage ein glücklicher Bürgermeister, Herr Müller? Er nickt.

Keine Landfluchtprobleme - stattdessen Wachstumsstress

Aber auch er hat Probleme, allerdings gerade andersherum als seine Kollegen in Beeskow, Schwedt oder Bad Freienwalde, denen die Landflucht Sorgen bereitet. Auch starkes Wachstum macht Stress. Plötzlich fehlten zahlreiche kommunale Einrichtungen – bis hin zu Gotteshäusern. Es gab in Falkensee keine Kirchenschließungen – sondern Kirchenneubauten, eine Seltenheit im eher atheistischen Brandenburg.

In den vergangenen Jahren hat die Stadt drei Grundschulen und ein Gymnasium neu errichtet, zwei weitere Grundschulen und eine Oberschule wurden saniert. Ähnlich voran ging es bei den Kitas, inzwischen gebe es fast genügend Schul- und Betreuungsplätze, heißt es offiziell. 2009 wurde ein Sportpark eingeweiht, die Zahl der Sporthallen hat sich verdoppelt.

Davon können Berliner nur träumen: Moderne Klassenzimmer, rascher Bürgerservice

Die meisten Gebäude sind topmodern, viele Berliner Schüler können von solchen Klassenzimmern nur träumen. Und gänzlich neidisch wird man als Hauptstädter, wenn Heiko Müller auf der Falkenseer Website digitalen Bürgerservice demonstriert. Dort erfährt man die aktuellen Wartezeiten im Bürgeramt. Ein Mausklick. „Zur Zeit“, sagt Müller, „müssen Sie neun Minuten auf einen Termin warten.“ Von wegen Schlafstadt Falkensee.

Leerstand gibt's nicht, Mietwohnungen fehlen

Ein wichtiges Vorhaben ist derzeit der Mietwohnungsbau. Viele junge Falkenseer, die eine erste eigene Wohnung suchen, finden kaum eine. Ebenso ergeht es älteren Menschen, die nach dem Auszug ihrer Kinder kleinere vier Wände bevorzugen. Auch Senioren aus dem Bundesgebiet, die künftig bei ihren nach Falkensee gezogenen Kindern und Enkeln leben möchten, stellen fest: Es gibt kaum Leerstand. Deshalb wird jetzt die Ausweisung neuer Baugebiete diskutiert, zum Beispiel südlich des Falkenhagener Sees.

Ruhige Idylle. Wohnstraßen mit Ein- und Zweifamilienhäuern und Stadtvillen prägen Falkensee und Dallgow-Döberitz. Viele wurden erst nach 2000 gebaut. Hier die Marie-Curie-Straße in Dallgow-Döberitz.
Ruhige Idylle. Wohnstraßen mit Ein- und Zweifamilienhäuern und Stadtvillen prägen Falkensee und Dallgow-Döberitz. Viele wurden erst nach 2000 gebaut. Hier die Marie-Curie-Straße in Dallgow-Döberitz.

© Kitty Kleist-Heinrich

Zum Arbeiten pendeln rund 9000 Falkenseer täglich nach Berlin, häufig mit der Regionalbahn. Auch zum Shoppen und Kulturgenuss nutzen viele den Vorteil der Metropolennähe. Park&Ride-Plätze für Räder und Autos wurden in großer Zahl geschaffen, doch die Züge sind oft überfüllt. Dichtere Takte sind aber kaum möglich, die Strecke nach Hamburg wird stark von ICE’s und Güterzügen genutzt. Deshalb gibt es Pläne, die S-Bahn von Spandau über Falkensee nach Nauen zu verlängern. Die Rede ist von Express-S-Bahnen, die nicht mehr an jedem Stopp halten.

Radler vermissen ein zusammenhängendes Wegenetz

Umfangreiche Bauvorhaben gibt es auch auf der Hauptzufahrt von Spandau nach Falkensee – der Spandauer Allee. Stop-and-Go nervt dort Autofahrer und Busfahrgäste. Die Stadtplaner streben eine grüne Welle an, zugleich wollen sie Linksabbiegespuren bauen und sichere Radspuren anlegen. Apropos Radverkehr: Da hat Falkensee viel Nachholbedarf. Es gibt noch kein Konzept für den Radverkehr und kein Radwegenetz.

An der Kreuzung am Rathaus fährt gerade der 337er BVG-Bus vorbei. Er pendelt zwischen Rathaus Spandau und Falkensee. Der 337er ist so etwas wie ein Symbol für den fließenden Übergang zwischen Berlin und seinem Speckgürtel. „Das verpflichtet uns zur Kooperation auf beiden Seiten“, sagt Heiko Müller. Und dann schwärmt er von neuen Projekten, die Falkensee noch attraktiver machen sollen: vom Hallenbad, von einer Bibliothek. Vermutlich muss ein Rathauschef so zielstrebig sein, der täglich erlebt, wie ein Viertel seiner Bevölkerung frühmorgens auf dem Weg zum Job die Stadt verlässt.

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