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Berlin: Tamara Taut, geb. 1912

Wie ein Märchen beginnt diese Geschichte. In Berlin, zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts.

Wie ein Märchen beginnt diese Geschichte. In Berlin, zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Damals lebten in der Nassauischen Straße in der Nähe des Kurfürstendamms zwei schöne armenische Schwestern. Sie waren reich, denn die Familie daheim in Baku besaß sprudelnde Ölquellen. Und sie waren begabt, feierten als Pianistinnen rauschende Erfolge. Die eine Schwester verliebte sich in einen Arzt und gebar bald eine schöne Tochter mit dunklen Haaren und dunklen Augen. Man nannte das Mädchen Tamara. Es wuchs heran in einem Haushalt, der erfüllt war von Musik. Und Tamara und ihr kleiner Bruder Karen lagen unter dem Flügel und lauschten dem Brausen der Resonanzböden.

Doch dann brachen in der Heimat Kämpfe aus - Türken begannen mit dem Massenmord an den Armeniern. Tamaras Vater eilte den Verwandten zu Hilfe - und kam ums Leben. Diese Tatsache beeinflusste fortan ihr ganzes Leben. Tamara Taut, geborene Haranian, wurde 88 Jahre alt.

Der Tod des Familienvaters, der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution, die auch das ferne Baku erfasste - all das bewirkte, dass die Schwestern Haranian in Berlin plötzlich arm waren. Als höhere Töchter, die von den praktischen Arbeiten des Alltags keine Ahnung hatten, standen sie völlig hilflos vor ihrer Misere. Ein ums andere Mal wurde der Brillantschmuck ins Pfandhaus getragen und wieder ausgelöst, die wertvollen Teppiche ein- und wieder ausgerollt. Der verzweifelte Eifer, mit dem Mutter und Tante den schönen Schein zu wahren suchten, prägte sich Tamara tief ein. Im Mädchen-Lyzeum schämte sie sich dafür, dass ihre Kleider mit denen ihrer Freundinnen nicht konkurrieren konnten.

Doch in einem Punkt war Tamara allen überlegen: mit ihrer Stimme, einem reinen Sopran. Der jungen Frau wurde häufig gesagt, dass sie eine der großen Liedersängerinnen ihrer Zeit werden könne. Wenn sie armenische Wiegenlieder sang, berührte Tamara ihre Zuhörer ganz besonders. Allein - Tamara fehlte es an Ehrgeiz. Auch für einen anderen Beruf konnte sie sich nicht entscheiden; mal hier, mal da erledigte sie ein paar Büroarbeiten. Und verbrachte vor allem viel Zeit mit ihrer Jugendliebe, einem jüdischen Medizinstudenten, der sie zu Anfang der 30er Jahre in antifaschistische Kreise einführte. Ein aktiver Widerstand gegen die Nazis wurde daraus nie. Aber die Deportation der Eltern ihres Freundes nach Auschwitz erschütterte Tamara zutiefst.

Vor den Bomben flüchteten Mutter und Tochter Haranian nach Gera. Als dort die Russen einmarschierten, brachen für beide bessere Zeiten an. Da die Frauen russisch sprachen und vom Nationalsozialismus unbelastet waren, durften sie musizieren. Zurück in Berlin konnte Tamara sogar Schallplattenaufnahmen machen. Doch dann traf die mittlerweile 36-Jährige Heinrich Taut. Der Sohn des berühmten Berliner Architekten Bruno Taut war schon im Kreis um Tamaras Jugendfreund dabei gewesen. 1949 war Hochzeit und Tamara von nun an Gattin.

Tamara Taut hörte auf zu singen. Ihre Mutter hatte einen schweren Schlaganfall erlitten, und Tamara pflegte sie sechs lange Jahre. Für die Gesangsstunden in West-Berlin blieb weder Zeit noch Kraft. Nur die Nachbarn in der Waldsiedlung in Lehnitz vor Oranienburg hörten Tamara Taut manchmal noch singen. Um das große Haus kümmerte sie sich - so weit sie es für angemessen hielt: Für alle groben Arbeiten holte sich Tamara jedoch Hilfe. Zu lernen, wie man eine Waschmaschine bedient, fand sie völlig unnötig. Mit ihrem nicht-werktätigen Lebenswandel war sie in der DDR zwar eine Exotin. Doch das kümmerte sie nicht - die Bestandteile der Staatsideologie, die ihr nicht passten, übersah Tamara Taut einfach. Dennoch war sie eine treue Bürgerin und sogar Partei-Mitglied. Seit 1946 bis zur Wende in der SED, danach bis zu ihrem Lebensende in der PDS. Sie, die ganz sicher keine Opportunistin war, empfand den Sozialismus einfach als humanere Gesellschaftsform. Sie war Dame und Genossin.

Das faszinierte ihre Umgebung, machte die elegante Professorengattin magnetisch, wie Freunde sagen. Ihre Schönheit trug dazu bei und ihr Charme, den sie gerne auch in der Gesellschaft von Männern einsetzte. Sie liebte es zu gefallen. Fuhr unten ein Besucher vor, lief Tamara zu einer großen Kommode, riss die Mittelschublade auf und wühlte aus mehr als hundert Tüchern das eine hervor, das ihr in diesem Augenblick als das perfekte erschien. Sich in Szene zu setzen, war ihr Lieblingsspiel.

So glitt Tamaras Leben dahin, bis die Wende kam. Und mit ihr ein Kind. Eigene hatte das Ehepaar Taut nie bekommen. Das hatte Tamara Taut zwar manchmal traurig gemacht. Aber nicht über Gebühr, denn die Kunst der Verdrängung beherrschte sie gut. Doch als nach 1989 die Ausbildungsverträge der DDR mit Vietnam aufgelöst wurden und einer vietnamesischen Freundin die Abschiebung drohte, entschlossen sich die Tauts, die Frau zu adoptieren. Da war Tamara schon fast 80 Jahre alt und die neue Tochter über 40.

Überhaupt brachten die Umstände im neuen, vereinten Deutschland wieder mehr Leben in das Dasein der alten Dame. Nachdem ihr Mann Mitte der neunziger Jahre verstorben war, verhandelte sie sorgfältig und clever mit der Akademie der Künste und mit der Wohnungsbaugesellschaft Gehag, um das Erbe ihres Schwiegervaters in die richtigen Hände zu bringen. Obschon körperlich immer zarter, blieb sie eisenhart in der Wahrung des äußeren Scheins - wie ihre Mutter sie das gelehrt hatte. Niemals ließ sie sich gehen. Zog sich selbst, als das Parkinsonsche Zittern sie schon plagte, noch dreimal am Tag um. Niemals sahen die Nachbarn sie mit ihrer Gehhilfe.

Tamara Taut war eine Dame. Eine, die vielleicht hundert Jahre vor ihrer Zeit hätte leben sollen.

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