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Berlin: Tanz den Gogo: Tanzen ist wie Bergsteigen - ein Rauschmittel

Es wird kalt, nachts um halb eins. Salomon zieht sich erst ein, dann noch ein zweites paar schwarze Wollsocken über die Füße.

Es wird kalt, nachts um halb eins. Salomon zieht sich erst ein, dann noch ein zweites paar schwarze Wollsocken über die Füße. Schließlich schnürt er die dicken Wanderschuhe zu. Er wird heute Abend wieder der Einzige sein, der im Sage Club solche Schuhe anhat. Völlig falsches Club-Outfit. Höchstens richtig, um Berge zu erklimmen. Aber halt, so falsch ist der Gedanke mit dem Bergsteigen gar nicht. In gewisser Weise treibt es Salomon auf die Spitze, das ist zumindest seine Aufgabe im Sage Club. Salomon Kronthaler, 27, ist einer der besten Gogo-Tänzer der Stadt, und seit drei Jahren tanzt er regelmäßig im Sage, dem Club, der ein bisschen New Yorker Glamour nach Berlin-Mitte holen will.

Ähnlich wie beim Bergsteigen ist richtige Kleidung alles. Heute Abend wechselt Salomon dreimal die selbstgenähten Kostüme im Keller des Clubs, wo Schilder das Rauchen verbieten und es trotzdem verdächtig süßlich riecht.

Netzhemd gegen Samt-Handschuhe, eine blinkende Kette aus kleinen Lämpchen gegen eine Army-Hose. Drei Mal tanzt er an diesem Abend auf einem Podest, das ihn für 20 Minuten zum Star des Abends macht. Manche Leute tun mehr, um zum Star zu werden. Manche aber auch weniger. Denn das Wort "tanzen" ist eigentlich eine glatte Untertreibung. Salomon dreht Pirouetten, als wolle er eine Rolle in einem Musical ergattern. Bereits nach fünf, sechs Minuten ist er so schweißüberströmt wie ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel.

Wie die meisten Gogo-Tänzer hat Salomon jahrelang in der Tanzschule geschwitzt: sieben Jahre lang Jazz-, Streetdance, HipHop, manchmal jeden Tag zwei bis drei Stunden Training. Sich professionell nach dem Rhythmus bewegen zu können, reicht aber auch noch nicht aus, um als Gogo-Tänzer engagiert zu werden: Ohne Ausstrahlung läuft nichts. Und die muss auch perlweiß-lächelnd-dicht sein, wenn man Bauchschmerzen, Liebeskummer oder keine Lust auf laute Musik hat.

Wenn Salomon tanzt, drängeln sich Frauen und Männer gleichermaßen um das Podest. Zwei Frauen Anfang 30 saugen jede seiner Bewegungen auf. Ihre Blicke sind, nun ja, gierig, möchte man sagen. Und auch die Männer fixieren ihn, neidisch, bewundernd, fragend. Die Frage, die in ihren Augen steht: Ist der wohl schwul? Später grinst Salomon, als man ihm die Frage stellt. Nein, er sei nicht schwul - obwohl "Schwule sich eher gerne inszenieren, sich schön anziehen" und deshalb die Mehrheit der männlichen Berliner Gogo-Tänzer stellen.

Wenn nicht schwul, dann zumindest dumm - so lautet ein weiteres Vorurteil. Die studierte Germanistin Meritxell Campos Olivé, eine Kollegin von Salomon, ist davon genervt. Die gebürtige Barcelonesin finanzierte sich ihr Studium mit dem Job als Gogo-Tänzerin in verschiedenen Berliner Clubs. Die Toleranz, die ach-so-große Freiheit, glaubt die 24-Jährige, sei nur Oberfläche: Eigentlich würden die Leute an Strip und Tabledance, also an "bäh" denken, wenn sie "Gogo" hören. "Sowas gibt es in Spanien nicht", ärgert sich die Spanierin, die bereits als 18-Jährige in Barcelonas Clubs tanzte. Wenn das Mädchen mit den großen braunen Augen von ihrem Job spricht, fallen Worte wie "entspannen", "aus dem Bauch heraus", "Meditation" - und es klingt, als leite sie eine Yoga-Gruppe.

Salomon reizt gerade das Spiel mit dem scheinbar Unanständigen: "Ich kann als Gogo eine Seite zeigen, die eigentlich nicht erlaubt ist: mich ausziehen, Kostüme tragen. Wo würde man mich sonst so reinlassen? Nirgendwo." Er möchte Grenzen erfahren, sagt er, provozieren. "Ich kann mir sogar vorstellen, Tabledance zu machen" behauptet er und schaut fragend. Provokation gelungen? Eine Seminararbeit zum Thema "Licht" legte der Produktdesign-Student im durchscheinenden roten Kostüm tanzend vor - die Kommilitonen rümpften die Nase, der Professor gab ihm eine Eins. Ihm gefällt auch der Gedanke, dass andere meinen, er könnte alle Frauen und Männer haben, für die er nachts tanzt. Obwohl es natürlich ein Klischee sei, wiegelt er ab. Eine würde ja schon reichen... Da winkt er wieder ab, grinsend.

Die Frauen seien viel zu schüchtern. "Die denken, wenn sie mich zu offen anstarren, ist das unanständig und gucken deshalb ganz oft zu Boden, wenn ich ihren Blick entgegne. Die finden das toll, wenn ich sie antanze, haben aber auch Angst." Angst wovor? Salomons Theorie: Männer haben ihre Freundinnen zu sehr an der Kandare - sie trauen sich einfach nicht zuzugeben, dass sie ein Gogo anmacht. Deshalb passiert es auch "ganz selten", dass ein Mädchen ihn anspricht, nachdem er vom Podest gestiegen ist. Und erst ein einziges Mal sei eine Frau ganz direkt gewesen: Sie wolle mit ihm ins Bett. Naja, sie wählte eine andere, aber ebenso drastische Umschreibung. Salomons Augen glitzern, nein, die Frau habe ihn nicht interessiert. Nicht die Frau, aber die Worte wirken wie ein reiner Energydrink. Es geht nicht so sehr darum, jeden Abend wirklich jemanden zu verführen, sondern um die Möglichkeit. "Die meisten Gogo-Tänzerinnen haben langjährige feste Beziehungen", sagt er, "naja, ich fühle mich allerdings noch nicht reif genug, eine lange Beziehung zu haben." Einmal sei eine Beziehung kaputtgegangen, weil die Frau es nicht ertragen habe, wie ihr Freund von anderen Frauen angestarrt wird. "Aber", relativiert Salomon gleich, "die Beziehung hat aber auch generell nicht hingehauen."

Meritxell überlegt keine Sekunde, bevor sie antwortet: Nein, niemals würde sie mit einem Gast etwas anfangen. "Ich bin überhaupt nicht so ein Fiesta-Party-Girl", sagt sie. Wenn sie um halb vier ihre dunkelrote seidige Kombination aus Bikini und Schleier ausgezogen hat, will sie mit niemandem mehr reden. "Solange man auf der Bühne ist, musst du lächeln, strahlen, mit dem Publikum flirten. Aber sobald ich die Bühne verlasse, schalte ich ab und höre weg." Man muss auch weghören, sonst könnne man kein Gogo sein. Auch um die Sticheleien zu ertragen, die gerade unter den Mädchen üblich sind. Wer hat ein paar Gramm zugenommen? Bei wem hängt der Busen? Wer muss mal wieder ins Solarium?

Man kennt sich, denn im Gegensatz zu Hamburg, München oder gar Barcelona gibt es nur ein Grüppchen Gogos. 50, 60 Tänzer teilen sich die Jobs in einer Handvoll Clubs, schätzt Meritxell. Sie hat vor drei Monaten eine Gogo-Booking-Agentur gegründet, unterrichtet Interessierte und sorgt für geordnete spanische Verhältnisse im größten Arbeitgeber, dem Sage. Berlin ist keine gute Stadt für Gogos, da sind sich Salomon und Meritxell einig: "Die meisten Clubs wollen undergroundig sein - und halten Gogos für prollig", hat Meritxell festgestellt. Und: Die Bezahlung liegt mit 150 bis 200 Mark pro Nacht unter dem bundesweiten Durchschnitt.

Es gibt schnellere Wege, reich zu werden, aber kaum bessere, einen gewissen Exhibitionismus auszuleben. "Alles was ich mache, mache ich so, dass es auffällt, egal, was ich mache, die Leute drehen sich um", sagt Salomon. Und sie sollen sich umdrehen. Er war 12 oder 13, als ihn mal jemand bei einer Schulparty anrempelte, "ey, wie scheiße bewegst du dich". Salomon entwickelte einen enormen Ehrgeiz, perfekt zu werden. "Ich habe keine Angst vor öffentlichen Auftritten, ich habe Bühnenpräsenz, Selbstwertgefühl, Sicherheit", sagt Salomon zum Abschied.

Gegen halb Vier, um 200 Mark reicher, zieht er im Keller seine dicken Wollsocken aus. Warum er gleich zwei Paar trägt? Die Schuhe sind sonst zu groß.

Sabine Rennefanz

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