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Berlin: Tanzend über die Mauer hinweg

Bei ihrer Geburt waren Teilung und Todesstreifen schon Geschichte – und ihnen bis vor kurzem ganz fern Nun proben Kinder und Jugendliche für eine Performance, die am Gedenktag aufgeführt wird

Bauarbeiter haben die Mauer gebaut, klar. Ayse-Gül Gözelce, 11 Jahre, zeigt mit dem Finger auf ein riesig vergrößertes Foto auf der Brandmauer eines Hauses in der Ackerstraße. Es zeigt, wie Arbeiter Stein auf Stein schichten. Wer den Bauarbeitern den Befehl gegeben hat, weiß Ayse-Gül nicht. DDR? Sagt ihr nichts. Politiker? Sie zuckt mit den Schultern. Ein König? Sie schüttelt den Kopf.

Ayse-Gül, ein Mädchen mit schulterlangen schwarzen Haaren, Minirock und Leggings, wohnt in Wedding und kommt oft an der Gedenkstätte Bernauer Straße vorbei. Ihre Großeltern leben in der Türkei, ihre Eltern können sich an den Fall der Mauer erinnern und dass große Party war. Alles, was Ayse-Gül sonst über die Mauer weiß, hat sie in der Schule gelernt. „Wo ich heute wohne, war früher Westen“, sagt sie, „der Mauerbau war schlimm“. „Berlin wurde geteilt, die Leute haben auf einmal hier und dort gelebt. Ich glaube, dass alle von jemandem getrennt waren, das war traurig.“ Es habe lang gedauert, bis die Mauer wieder kaputt gemacht wurde. Wann und warum weiß sie nicht.

Ayse-Gül war auch schon in der Gedenkstätte. Viel hat sie dort nicht verstanden, aber wie diese Kirche gesprengt wurde: „wow!“ Sie reißt die Augen auf und zeichnet mit der Hand die Bewegung der fallenden Kirche nach. Ihre Lehrerin hat erzählt, dass Menschen Tunnel gegraben haben, um zu flüchten. Auch das hat sie sich gemerkt. Manchmal haben sie jahrelang gegraben. In China gibt es auch eine Mauer, sagt sie, und steht nicht auch in Korea eine? Jetzt aber muss sie los, jemand ruft nach ihr. Ayse-Gül rennt zum Rest der Gruppe und stellt sich mit den anderen in eine Reihe. Jetzt ist Ayse-Gül Gözelce die Mauer.

22 Kinder, Jugendliche, Ältere und Grauhaarige stehen wie Mauersegmente nebeneinander. Sie stehen auf dem Rasen, der sich entlang der Bernauer Straße von der Ackerstraße zur Versöhnungskapelle zieht. Zur Bernauer Straße hin ist die Rasenfläche mit rostigen Stahlstäben abgegrenzt. Das ist das neue Freiluft-Ausstellungsfeld. Es gehört zur Gedenkmeile Bernauer Straße und wird Sonnabend eröffnet. Die 22 Frauen und Männer machen Schritte nach vorn und hinten. Es sieht aus, als würde sich die Mauer bewegen, wie wenn ein Windhauch in eine Gardine fährt.

„Zwischen den Mauersteinen“ heißt das Tanzprojekt, das sich die englische Tänzerin und Choreographin Jo Parkes ausgedacht hat und mit den 22 Berlinern einstudiert. Unterstützt wird sie von den Choreographinnen Fiona Edwards und Anna-Luise Recke und einem siebenköpfigen Team. Denn die 22, die da auf dem Rasen die Mauer formen, sind keine Profitänzer, sondern Berliner, die mitmachen, weil sie das Thema interessiert oder weil sie schon immer mal tanzen wollten.

Wie haben die Menschen das nur ausgehalten mit der Trennung? Ester-Ebru Boim, 17 Jahre, hat sich das oft gefragt, vergangenes Jahr, als sie im Geschichtsunterricht über die Mauer gesprochen haben. Sie umfasst eine rostige Stange und lässt sich daran herabgleiten. Zahlen, Daten, Fakten interessieren sie nicht so. Wer hat die Mauer gebaut? Hm. Der Osten? Die Sowjetunion? Nur in Berlin?

Ihre Tanzpartnerin Julieta Jacobi lehnt sich jetzt an sie, dann geben sie sich die Hände, gehen auseinander, kommen wieder zusammen. Jo Parkes hat ihnen keine fertige Choreographie vorgegeben, sondern Themen: verbinden – trennen, helfen – zerstören, öffnen – schließen. Dazu haben die Tänzer Bewegungen entwickelt, die im Kopf der Zuschauer kraftvolle Bilder entstehen lassen.

Ein kleiner Stich durchzuckt Ester-Ebru, wenn Julieta auf den Rasen hinaus läuft und sie hinter den Stäben bleibt. Wie groß muss der Schmerz gewesen sein, wenn der Freund in den Westen gegangen ist und die Freundin im Osten bleiben musste? Manchmal denkt Ester-Ebru bei den Proben auch an die Mauer in ihrer Familie. Ihr türkischer Vater hat mit seinen Eltern gebrochen, weil die seine ukrainische Frau nicht akzeptierten. Ester-Ebru hat ihre Großeltern noch nie gesehen. Wegen der Religion, wegen der Nationalität, so ein Quatsch.

Warum konnten die Politiker nicht miteinander sprechen, Kompromisse finden? Julieta Jacobi, 18 Jahre, kann die Endgültigkeit des Mauerbaus nicht fassen. Sie hat sich in der Schule viel mit der Mauer beschäftigt, Dokumentarfilme gesehen, sie war in der Gedenkstätte, ihr Onkel wohnte in einem Haus in Kreuzberg direkt an der Mauer und hat ihr erzählt, wie sie den Flüchtlingen geholfen haben. Und doch will ihr nicht in den Kopf, dass diese Mauer so lange gestanden hat. Wird doch über alles diskutiert heute, es gibt keine Endgültigkeit mehr, keine unumstößlichen Autoritäten. War das so anders vor 50 Jahren?

Die Tanzgruppe hat sich über den Rasen vor den Stäben verteilt. Jeder läuft für sich und stoppt abrupt hier und da, als würde man in einem Labyrinth gegen Wände stoßen. Julieta läuft immer schneller. Sie kennt die Hintergründe, die zum 13. August 1961 geführt haben. Die Ostdeutschen, die in den Westen gingen, Ulbricht, der die Mauer bauen wollte, Chruschtschow, der zugestimmt hat. Aber was waren die tieferen Gründe? Politiker in Ostberlin und Moskau waren zu machtgierig. Wollten nicht zugeben, dass ihr System nicht funktioniert. Anstatt sich zu fragen, was können wir ändern, damit die Menschen bleiben, haben sie die Mauer gebaut. Wahnsinn. Langsam lassen sich die Tänzer jetzt auf den Boden sinken und bleiben liegen. So still muss es auch unter dem DDR-System gewesen sein, denkt Julieta. Wenn sich einer erhoben hat, ist er sofort aufgefallen.

So wie jetzt Regina Lux. Sie geht durch das Feld mit den am Boden liegenden Körpern. Sie geht langsam, bedächtig. Könnten auch die Mauertoten sein zu ihren Füßen. Regina Lux war 15, als die Mauer gebaut wurde. Sie kann sich genau erinnern an den 13. August 1961. Als sie aufwachte und überall in der Stadt war Stacheldraht. Ihr bester Freund war drei Jahre älter als sie, sie dachte, sie würden einmal heiraten. Jetzt war er in Ostberlin und weit weg. Sie hat lange nicht mehr über das Vergangene nachgedacht. Beim Tanzen kommt alles wieder hoch. Zwischen den Proben, wenn ein bisschen Zeit war, haben sie über die Vergangenheit gesprochen, die Schüler, die nur die Erzählungen kennen und die Älteren, die dabei waren. War es schwer, in den Osten zu kommen, wollte Julieta wissen. Brauchte man ein Visum?, fragte Ester-Ebru. Wie lange konnte man bleiben?

Sarah Schurz, 32, klettert an einer rostigen Stange nach oben. Andere Tänzer halten sie oder ziehen an ihr. Sie ist als Kind mit der Mauer groß geworden. Tränen drücken sich in Sarahs Augen, auf einmal diese Enge, diese Beklemmung. Das Erlebte arbeitet in ihr, auf dem Weg zu den Tanzproben, jetzt da sie zwischen den Stangen hängt. Sie sieht, wie sie nachts am Grenzübergang unter Scheinwerferlicht mit der Mutter auf der Bordsteinkante saß, während die Vopos das Familienauto durchsuchten. Gespenstisch. Aber auch lustige Erinnerungen gehen ihr durch den Kopf: Wie sie mit der befreundeten Familie in Ostberlin im engen Wartburg zum Müggelsee gefahren sind zum Baden. Sie war Kind, hat das alles für normal gehalten. Jetzt fragt sie sich zum ersten Mal: Was steckt in mir? Wie hat mich das Leben mit der Mauer geprägt? Habe ich überhaupt richtig in Deutschland gelebt oder auf einer Insel?

Die Mauer hat die Menschen von einem Tag auf den anderen getrennt. Der Mauertanz hat die 22 Berliner von einem Tag auf den anderen zu einer Einheit zusammengeschweißt. Keiner kannte den anderen vorher. Schnell hat jeder seine Rolle, seinen Platz in der Gruppe gefunden. Es ist nur ein Tanzprojekt, klar. Die Aufführung dauert 15 Minuten. Aber sie werden verändert daraus hervorgehen.

Die Tanzperformance „Zwischen den Mauersteinen“ ist am 13. August um 12.10 und 15 Uhr auf der Open-Air-Bühne gegenüber der Mauer-Gedenkstätte zu sehen

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