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Lang, lang, kurz-kurz: So geht Foxtrott. Physiotherapeutin Claudia Neumayer (3.v.l.) lehrt ganz behutsam. Jetzt können wieder Einsteiger im Kurs mitmachen.

© Davids

Tanzkurse für Behinderte: Eine bewegende Erfahrung

Die Treppe allein herunterlaufen, das ist oft schon beschwerlich. Und dann tanzen? Im Nachbarschaftshaus Lietzensee lädt eine Physiotherapeutin zu Kursen für Behinderte.

Von einem Moment auf den anderen war alles anders. Vor elf Jahren kam der erste Schub, Multiple Sklerose. Erst ging gar nichts mehr. Zum Brötchenholen rutsche ich aber jetzt manchmal eben die Treppenstufen auf dem Allerwertesten herab. Hebe das eine Bein beim Heraufgehen auf der Stufe einzeln an, schwenke das andere hinterher. Und jetzt – tanzen?

Am Seiteneingang ist eine Treppenraupe montiert. Mit der können alle in den Tanzsaal kommen, denen die Treppe zu steil ist. Musik ist zu hören. Und eine Frauenstimme. „Zum Aufwärmen stellen wir jetzt unsere Stühle im Kreis auf.“

Das Haus, in dem sich der Tanzsaal mit Parkett befindet, ist in der Herbartstraße in Charlottenburg-Wilmersdorf, am Lietzensee. Die Stimme gehört der Physiotherapeutin Claudia Neumayer. Die Gründerin der Gruppe „Jeder kann tanzen – Tanzen für Menschen mit Bewegungsstörungen“. Die 49-Jährige wurde in Düsseldorf geboren. Nach dem Schulabschluss kam sie nach Berlin, um Grafikdesign zu studieren. Doch dann klappte das nicht, und es wurde Germanistik. Ihren Lebensunterhalt verdiente Claudia Neumayer mit Altenpflege. Mit 28 Jahren machte sie bei der Arbeitsagentur eine elektronische Berufsberatung: „Physiotherapeutin“ empfahl die Maschine. Und veränderte Neumayers Leben. Nach der Ausbildung arbeitete sie in der neurologischen Rehabilitation bei den Heilstätten in Beelitz. Da sie selbst schon immer gern getanzt hat, bittet sie auch Parkinson-Patienten zum Tanz. Sie erinnern sich dann auf dem Parkett an die Schritte von früher. Dann wurde die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DSMG) auf Claudia Neumayer aufmerksam. Man half ihr, im Frühjahr 2013 eine Gruppe für Menschen mit Bewegungseinschränkungen im Nachbarschaftshaus Lietzensee aufzubauen.

Nun stehe ich hier – bis zum Beginn meiner MS war ich Turniertänzer. 1983 bekam ich eine Urkunde, war zweitbester Tanzschultänzer Cuxhavens. Jetzt bin ich 48. Seit Jahren schon haben meine Freundin und ich schon nicht mehr getanzt. Seit 18 Jahren sind wir zusammen. Jetzt bin ich hierher gekommen, für mich, mit meinem Elektroscooter, zum Testen.

Ein halbes Dutzend Tänzer sind da, jeder hat seine Geschichte. Einer der Teilnehmer kann nicht mehr allein stehen und wird auf seinem Stuhl in den Kreis geschoben. Neumayer beginnt mit Aufwärmübungen. Alle paar Minuten wechselt sie die Musik, synchron heben die Tänzer Arme und Beine. Dann nehmen sich alle bei den Händen zu einem Kreistanz, bei dem sie, sich gegenseitig aneinander abstützend, den Foxtrott-Grundschritt versuchen. Erstes, glucksendes Gelächter.

Ich finde bei Claudia Neumayer Halt. Nicht einfach für sie, sie muss sich ganz schön gegen mich wuchten. Den Grundschritt auf der Stelle tanzen? Na ja, irgendwie auch ein trauriges Gefühl. Aber zugleich schön. Wärme, Umarmung, Freude!

Für alle ist der Höhepunkt jeder Stunde der freie Paartanz. Zwei Paare finden sich, und den Mann auf dem Stuhl hebt Neumayer persönlich in den Stand. Seine Füße kann er kaum vom Boden heben, doch mit dem Oberkörper deutet er die Schritte an. Und lacht dabei. „Wie einst im Mai!“ Auf die Frage, was das schönste Erlebnis war, das sie bislang beim Tanzen hatte, schaut sie verträumt. „Es war mal ein Mädchen dabei, die Tänzerin werden wollte. Dann bekam sie einen Schlaganfall. Mit 19 Jahren. Als sie nach ein paar Stunden wieder die ersten Schritte mit mir im Arm machen konnte, haben sie und ihre Mutter geweint.“

Mir hat das Tanzen Spaß gemacht – und neuen Schwung gegeben. Ich war jetzt mit dem Elektroscooter auf Tour durch Singapur, Australien und Neuseeland. Ich bin 80 Prozent schwerbehindert – happig, was ich habe. Aber stoppen lasse ich mich nicht.

- Jeder kann tanzen: freitags 14.45 bis 16.15 Uhr, wieder ab 11. Juli, Herbartstr. 25, Nachbarschaftshaus Lietzensee, Tel. 3060 650. www.nbh-lietzensee.de, www.jederkanntanzen.com.
Impro-Tanz für Behinderte und Nichtbehinderte: www.tanzfaehig.com, www.info-behindertensport.de/bulaender/berlin. Behinderten-Sportverband Berlin e.V.: bsberlin.de, Tel. 30833870. Die Malteser und das Kiezbüro (DorfwerkStadt e.V.) bieten eine offene Tanzgruppe für Senioren an. Tel. 344 58 74 und 348 003 59.

Knud Kohr

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