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Ermittlungen sind Detailarbeit: Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Bernhard Jaß ist Chef der Mordkommission.

© Kitty Kleist-Heinrich

Tatort Berlin: Wie die Mordkommission arbeitet

Wenn ein Mensch getötet wird, klingelt das Handy. Und die Kleinarbeit beginnt. Ein Besuch bei den Männern und Frauen der Mordkommission.

Von Barbara Nolte

Dass der Buchhalter und ehrenamtliche Basketballtrainer Mario G. in der Nacht zum 27. September vergangenen Jahres in seiner Wohnung mit einem spitzen Gegenstand verletzt und dann erwürgt wurde, kam Bernhard Jaß äußerst ungelegen.

G. hatte ein Bad genommen, als er so zugerichtet wurde, dass ihm keiner mehr helfen konnte. Ein Polizist hatte Jaß aus dem Krankenhaus angerufen, wohin sie den zunächst noch Bewusstlosen gebracht hatten. Nachbarn hatten die Polizei gerufen, nachdem sich an ihrer Decke Wasserflecken gebildet hatten. Der Täter hatte den Wasserhahn nicht zugedreht. Bernhard Jaß saß schon an seinem Schreibtisch in der Keithstraße, obwohl es noch früh war, dienstagmorgens, ungefähr halb acht, als ihm der Polizist den Fall schilderte.

Jaß ist Chef der sechsten Mordkommission, ein durchtrainierter Mann in den 40ern mit kurzen blonden Haaren und verschmitztem Lächeln.

Ein Mensch war gewaltsam zu Tode gekommen, resümiert er, der Täter war flüchtig. Einer der Fälle, bei denen Kommissare häufig alle für die nächsten Tage geplanten privaten Termine absagen. Eine alte Kriminalistenregel lautet: Sind die ersten 48 Stunden verstrichen, ohne dass es eine Spur zum Täter gibt, wird es zäh. Meist arbeiten alle neun Ermittler einer Kommission gemeinsam an einem so akuten Fall.

Doch ausgerechnet für die Nacht von Dienstag auf Mittwoch hatte Jaß geplant, ein Verbrechen nachzustellen. Sie mussten sich aufteilen: Jaß fuhr mit einem seiner Kommissare nach Pankow, wo Mario G. wohnte, die übrigen Kommissare trafen die letzten Vorbereitungen für die Nacht: Der Kaiserdamm musste gesperrt werden. Zehn Tage zuvor war dort Guiseppe M., Sohn des Besitzers eines italienischen Restaurants, von einem Auto erfasst und gegen einen Ampelmast geschleudert worden. Zwei Männer hatten ihn aus dem U-Bahnhof auf die Straße getrieben. So schilderten es Zeugen.

Eine Gewalttat in der U-Bahn, wie sie sich seit dem vergangenen Jahr auf so unheimliche Weise in Berlin häufen, wofür auch ein erfahrener Kommissar wie Jaß, der in seinen neunzehn Jahren als Mordermittler in jeden Abgrund der Stadt Berlin geblickt hat, keine Erklärung hat.

Jaß hat einen freundlichen, zufriedenen Gesichtsausdruck, ganz ohne misanthropische Züge, wie sie Protagonisten von Krimiserien im Fernsehen häufig aufweisen. Mit den Händen in den Hosentaschen wippt er auf seinem ledernen Chefsessel hin und her. Er gibt sich bodenständig und unaufgeregt, wägt aber jedes Wort, denn das Strafverfahren gegen die Tatverdächtigen vom Kaiserdamm läuft noch. Sie hatten sich selbst der Polizei gestellt, bestreiten aber, dass sie dem Opfer etwas antun wollten. Es ist schwer nachzuweisen, dass jemand einen anderen in den Tod zu hetzen beabsichtigt. Jaß beschloss, die Tat zu rekonstruieren, wie sie es bei der Kriminalpolizei manchmal tun, um die Plausibilität der Aussagen von Zeugen und Tatverdächtigen zu überprüfen.

Nachts um halb vier, Jaß hatte drei Stunden geschlafen, fanden sich die Mordkommissare und die Zeugen am Kaiserdamm ein. Sie mussten sich beeilen, um fertig zu sein, wenn der Berufsverkehr einsetzte. Verkehrspolizisten leiteten die wenigen nächtlichen Autos um. Schutzpolizisten spielten, von den Zeugen dirigiert, die Täter und das Opfer. Der Termin habe sich nicht aufschieben lassen, sagt Jaß. Die Erinnerung der Zeugen wäre sonst mehr und mehr verblasst.

Dass Mordkommissare an mehreren Fällen gleichzeitig arbeiten, ist nichts Ungewöhnliches in Berlin. Im vergangenen Jahr ereigneten sich ungefähr 70 versuchte und 50 vollendete Mord- und Totschlagsverbrechen in der Stadt. Mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Die 70 Berliner Mordkommissare, die auf acht Mordkommissionen aufgeteilt sind, ermitteln außerdem bei Geiselnahmen und Entführungen, in allen Fällen von gefährlicher Körperverletzung, Raub oder bei vermeintlichen ärztlichen Kunstfehlern mit Todesfolge. Und auch, wenn ein Polizist im Dienst mit seiner Waffe einen Menschen verletzt. Macht insgesamt 280 Fälle und pro Kommissar mehrere hundert Überstunden im Jahr.

Mit dem Trott kann es jederzeit vorbei sein

Der Kommissar und sein Werkzeug: Der Farbroller für Fingerabdrücke von Bernhard Jaß.
Der Kommissar und sein Werkzeug: Der Farbroller für Fingerabdrücke von Bernhard Jaß.

© Kitty Kleist-Heinrich

Nebenan, im Zimmer der Kommissarin Köstler, steht ein durchgesessenes, beiges Sofa, auf dem manchmal einer schläft, wenn es sich nicht lohnt, abends nach Hause zu fahren.

Die Büros der sechsten Mordkommission liegen im Landeskriminalamt 1 für „Delikte am Menschen“, ein wuchtiger Bau nahe dem Wittenbergplatz. Neben der hölzernen Pförtnerloge liegt eine Kladde mit der Aufschrift „Schlüsselbuch Waffenkammer“. Die Kommissare sind Dauerwaffenträger, wie es bei der Polizei heißt. Hier im Haus legen sie die Pistolen ab.

In den Arbeitszimmern der Kommissare im vierten Stock ist vom Geist der preußischen Behörde, als die das Gebäude vor hundert Jahren errichtet wurde, nichts mehr zu spüren. Jaß’ Schreibtisch ist unter Akten begraben. An der Wand hängen Bilder von Ekel Alfred, der von Wolfgang Menge geschaffenen Fernsehfigur aus den 70ern. Ein Mitarbeiter hat sein Zimmer mit Fotos von Klaus Kinski dekoriert. In der sechsten Mordkommission hegen sie offenbar gewisse Sympathien für unangepasstes Verhalten. Nur der Dalai Lama musste wieder runter von der Wand. Aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle von Zeugen oder Beschuldigten, sagen sie – die Kommissare vernehmen mitunter auch in ihren Büros. Der Dalai Lama liegt eingerollt neben einem Metallspind. An seiner Stelle hängt da nun Louis de Funès, umringt von jungen Polizistinnen. Ein Plakat zum Film „Louis und seine verrückten Politessen“.

Die Bürotüren stehen offen. Kommissare blättern in Akten oder gießen Zimmerpflanzen. Ihre offizielle Tätigkeitsbeschreibung lautet „Sachbearbeiter“, und der heutige Arbeitstag verläuft so beschaulich wie in jedem anderen Amt.

Doch mit dem Trott kann es jederzeit vorbei sein. Seit sechs Tagen haben Jaß und seine Mordkommissare Rufbereitschaft. Im Zwei-Wochen- Turnus sind die Mordkommissionen dafür eingeteilt. Jaß wirkt nicht nervös, das war er nur zu Anfang. Doch die Ungewissheit treibt ihn immer noch um: Jede Verabredung steht unter Vorbehalt. Er traue sich kaum in die Sauna, sagt er, weil er das Handy nicht mitnehmen könne. Wenn irgendwo in Berlin ein Mensch getötet wird, klingelt es.

Dann fährt er auf direktem Weg zum Tatort. Mehrere seiner Kommissare bestellt er dorthin. Oft trifft er dort schon auf Pressefotografen. Jaß mutmaßt, dass sie den Polizeifunk abhören oder dass es in der Polizei oder bei den anderen Ermittlungsbehörden jemanden gibt, der die Boulevardjournalisten mit Tipps versorgt. Am Tatort hängt häufig ein fauliger Verwesungsgestank. Jaß hat gelernt, nur durch den Mund zu atmen.

Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach schreibt, dass ein Tatort von Morden seinen Schrecken schnell verliere, er erzähle eine Geschichte. Nach dieser Geschichte suchen sie, häufig zu zehnt, Männer und Frauen in weißen Einwegoveralls mit Kapuzen, Mundschutz, Handschuhen: Kommissare, Spurensicherer, der Tatortfotograf, Rechtsmediziner, Staatsanwalt.

Manche Spuren scheinen eindeutig und weisen doch den falschen Weg. Beim Mord am Buchhalter Mario G. hatten Jaß und ein Kollege beispielsweise beim ersten Rundgang durch die Wohnung in der Küche einen Rucksack gefunden, in dem die Kopie eines Personalausweises steckte. Im Polizeicomputer fand sich der Name. Ein Mann, der sich häufig am Bahnhof Zoo aufhielt. Polizisten der für den Zoo zuständigen Wache, der sie das Passfoto mailten, brachten ihn am Abend des nächsten Tages in die Keithstraße. Doch der Mann hatte ein Alibi.

Während das Gros der weißen Kapuzenleute nach ein paar Stunden den Schauplatz eines Verbrechens wieder verlässt, bleibt Ingolf Dietrich oft tagelang dort. Dietrich ist 56, Vollbartträger. In der DDR leitete er ein Kommissariat in Mitte. Nach der Wende hat er sich auf Tatortarbeit spezialisiert. Er nimmt den Hausstand eines Ermordeten auseinander, zieht jede Schublade heraus. Ein Leben breitet sich vor ihm aus, während der, der es führte, häufig noch mitten im Raum liegt. Doch das stört ihn nicht. Eine Leiche, sagt Dietrich, sei für ihn mittlerweile nichts anderes als „ein Gegenstand“. Manchmal packt er mit an, hilft den Gerichtsmedizinern, sie zu verrücken, denn so ein steif gewordener Mensch ist schwer zu tragen. Erst nach etwa drei Stunden, wenn die Fundstelle der Leiche vermessen ist, wird sie zur Obduktion in die Gerichtsmedizin transportiert.

Wenn eine Festnahme gefährlich werden könnte, ruft Jaß das Sondereinsatzkommando

Abgeriegelt: Polizisten sperren einen Fundort.
Abgeriegelt: Polizisten sperren einen Fundort.

© dapd

Heute sitzt Dietrich an seinem Schreibtisch und komplettiert einen „Tatortbericht“, eine akribische Arbeit. Jede Schmauchspur, jedes Projektil, das er am Tatort gefunden hat, wird aufgelistet. Jaß bescheinigt ihm ein besonderes Gespür für Spuren. Einmal hat Dietrich zwei Zigarettenkippen auf der Straße aufgelesen, die sich als entscheidende Spur erwiesen, um einen Mann zu überführen, der einen Blumenhändler in Lichtenberg ermordet hatte.

Im Besprechungszimmer der sechsten Mordkommission hängt eine mit Nadeln gespickte Berlin-Karte, auf der die Schauplätze der Verbrechen verortet sind, die die Kommissare bearbeiten. Sie ermitteln in Charlottenburg, Kreuzberg, Pankow. Mord ist ein klassenloses Verbrechen. „Die Motive“, sagt Jaß, „sind dieselben wie vor hundert Jahren: Liebe und Geld.“ In Dahlem oder Zehlendorf allerdings, in den Villen der Reichen, in denen alte Fernsehkrimis oft spielen, hätten sie selten zu tun.

Das Besprechungszimmer sieht eher aus wie eine Küche. In einer Ecke steht eine Mikrowelle. Aus einem offenen Metallspind ragt eine Palette Kaffeepäckchen. An den mit einer orangefarbenen Plastiktischdecke überzogenen Konferenztisch haben sich ein paar Kommissare für ihre Mittagspause gesetzt. Es gibt keine Kantine in der Keithstraße. Jaß lobt die Vielfalt des kulinarischen Imbissangebotes rund um den Wittenbergplatz. Die Kommissare essen Döner. Dietrich scherzt über den trockenen Panettone-Kuchen, den die Kollegin Köstler zum Nachtisch mitgebracht hat.

Claudia Köstler ist Diplom-Biologin, anschließend hat sie die Fachhochschule der Polizei besucht wie fast alle hier. Härten, von denen Frauen berichten, die in Männerbastionen eindringen, habe sie nie erlebt. Mittlerweile sind sie drei Ermittlerinnen in der Kommission. Wenn sie an akuten Fällen arbeiten, sitzen sie oft zu Unzeiten hier um den Tisch und „wälzen die Details eines Verbrechens hin und her“, wie Jaß sagt. In der Gruppe entstehe ein „Jagdinstinkt“, der sie vorantreibe.

Die Kommissare tragen Jeans und robuste Schuhe. Nicht, um gewappnet zu sein, einem Täter nachzurennen. Sondern weil es oft kalt und dreckig ist, dort wo sie ermitteln. Verfolgungsjagden sind vor allem ein dramaturgisches Moment im Fernsehen. Seine Dienstwaffe hat Jaß bisher nur am Schießstand der Polizei benutzt.

Wenn eine Festnahme gefährlich werden könnte, ruft er das Sondereinsatzkommando. Wie zuletzt beim Fall des getöteten Neugeborenen, das ein Rentner im November morgens um halb neun in einem Hof am Spandauer Damm gefunden hatte. Ein Verbrechen, das so alt wie die Menschheit und selbst heute nicht auszurotten ist, nicht mal durch Babyklappen, von denen es in Berlin vier Stück gibt. Beim ersten Gang durchs Treppenhaus stießen Kommissare vor einer Wohnungstür auf eine Tüte mit blutigen Binden. Beim Blick in den Polizeicomputer stellten sie fest, dass ein Mann in der Wohnung gemeldet war, der vor Jahren seiner Ex-Freundin das Gesicht zertrümmert hatte. Das Sondereinsatzkommando rammte die Tür auf, der Mann wehrte sich nicht. Ein Transportkommando der Polizei brachte ihn in die Keithstraße.

Jaß lässt möglichst wenig Zeit zwischen Festnahme und Vernehmung verstreichen. Man hoffe, sagt er, das Überraschungsmoment der Festnahme zu nutzen. Die Vernehmungen werden von einer Schreibkraft am Computer protokolliert. Jaß kann sie von seinem Büro am Bildschirm in Echtzeit mitlesen. Die erste Hürde ist, dass Beschuldigte nicht aussagen müssen. Sie werden darüber belehrt. Viele Vernehmungen sind nach Minuten vorüber. Doch häufig redeten Beschuldigte, sagt Jaß, in der Hoffnung, möglichst unverdächtig zu wirken.

Jaß beauftragte seinen Mitarbeiter Thomas Ruf, den Tatverdächtigen vom Spandauer Damm zu vernehmen. Ruf hat raspelkurze Haare und braune, freundliche Augen. Er redet viel und schnell. Alle nennen ihn Enzo, weil er mal einen Alpha Romeo fuhr. Er ist in der Kommission der Spezialist für Obduktionen und Vernehmungen. Mal steht er neben dem Opfer, während der Rechtsmediziner dessen Leiche seziert, mal sitzt er dem mutmaßlichen Täter gegenüber.

Bei dem polizeibekannten Tatverdächtigen vom Spandauer Damm wurde in der Vernehmung schnell klar, dass er nicht an der Kindstötung beteiligt gewesen war. Ruf vernahm anschließend seine Lebensgefährtin, die am späten Abend gestand, das Kind in den Hof geworfen zu haben.

Ruf glaubt zu spüren, ob jemand lügt

Vor wichtigen Vernehmungen, sagt Ruf, sei er angespannt. Manchmal spüre er bei den ersten Worten, dass sein Gegenüber total aggressiv sei. „Da denke ich: Mach’ jetzt bloß keinen Fehler.“ Ruf siezt Beschuldigte. Polizeierfahrene, sagt er, duzten ihn häufig. Dann duzt er zurück. „Mit Berufsverbrechern ins Gespräch zu kommen, ist wie ein Treffer im Lotto“, sagt er.

Zuerst fordert er die Beschuldigten auf, sich zum Tatvorwurf zu äußern. Die Mehrzahl ist geständig. Mörder seien oft Ausnahmetäter, sagt Ruf, sie wollten sich aussprechen, weinten dabei viel. Solchen Menschen müsse man Zeit lassen, alles detailliert zu schildern.

Viele aber streiten die Tat ab. Ruf glaubt zu spüren, ob jemand lügt. Häufig sei dann die Körperhaltung verschränkt, die Augen würden feucht. Doch auf den Eindruck könne man sich nicht verlassen. Täter von Gewaltverbrechen kommen häufig aus autoritär strukturierten Milieus. Früher hat Ruf bei Verdächtigen, bei denen er sicher war, dass sie ihn anlogen, klargestellt, wer der Stärkere ist. „Wir wissen, dass du es warst.“ Doch es habe sich als erfolgreicher erwiesen, sagt er, einen Täter „weichzuspülen“. Beharrlich, aber verbindlich im Ton, weist er auf Widersprüche in den Aussagen hin. Wenn sich einer festgelogen hat, wie Ruf sagt, wechselt er das Thema, spricht über die Kindheit eines Tatverdächtigen oder seine Hobbys. Beschimpfungen wie „Du kleiner Hurensohn“ überhört er. „Man muss sich klarmachen: Wir wollen was von dem.“ Mitunter sagt er minutenlang auch gar nichts, wartet ab, oder er schickt die Schreibkraft raus, damit das Gespräch vermeintlich intimer wird.

Wichtig sei, sagt Ruf, eine Situation zu schaffen, in der sich ein Tatverdächtiger öffne. Einmal engagierten sie sogar einen Zeugen, der an der Vernehmung teilnahm. Das war bei einem Handtaschenraub, der drei Jahre zurücklag. Eine alte Frau stürzte dabei und starb. Sie hatten die Fall schon abgeschrieben. Ein Zeuge, der bei der Polizei anrief, brachte ihn wieder ins Rollen. Er sagte, dass ein Bekannter ihm anvertraut hätte, eine Weile lang Handtaschen geraubt zu haben. Da der Bekannte für die Tat infrage kam, bestellten sie ihn ein und baten den Zeugen hinzu. Der Tatverdächtige stritt alles ab, bis der Zeuge zu ihm sagte. „Wir wissen doch, dass du Handtaschen ziehst.“ Darauf antwortete der Mann: „Okay. Ich nehme die Tat an, aber ich wollte sie nicht töten.“ Dann nahm er die Hand eines Polizisten und weinte. Ein vernehmerischer Coup. Doch Ruf empfand in diesem Fall Mitleid mit dem Handtaschenräuber. „Der hatte sich in der Zwischenzeit etwas aufgebaut, mit einer neuen Lebensgefährtin, einem kleinen Kind. Wir zerhauen ihm sein Leben.“

Tags darauf hat der Mann sein Geständnis widerrufen. Die Hauptverhandlung gegen den Handtaschenräuber läuft gerade. Vor Gericht darf ein widerrufenes Geständnis nicht verwendet werden. Richter behelfen sich oft damit, den Vernehmungsbeamten als Zeugen zu laden und zum Inhalt der Vernehmung zu befragen.

Jaß sagt, dass er mitunter fassungslos sei, wie emotionslos Täter Morde gestehen. Aber auch er kennt Mitleid, wenn er ihre Familiengeschichten hört. „Manch einer hatte schon verloren, als er geboren wurde.“ Untereinander sprechen sie manchmal von „Kunden“. In seinen fast zwanzig Jahren bei der Mordkommission hat Jaß kalte, aggressive, verzweifelte Männer und Frauen erlebt, die getötet hatten. Was hat er gelernt über die Menschen? „Jeder kann zum Mörder werden“, sagt Jaß, auch er selbst. „Weil bei vielen Taten Gefühle im Spiel sind, die sich aufgestaut haben.“

Die Aufklärungsquote liegt über 90 Prozent

Mit diesen Wattestäbchen werden DNA-Proben genommen.
Mit diesen Wattestäbchen werden DNA-Proben genommen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Jaß wirft einen skeptischen Blick auf sein Telefon, das nicht klingelt. Der Bereitschaftsdienst, sagt er, sei diesmal fast schon unheimlich ruhig. Er bekomme nicht einmal „Angebote“. Angebot ist ein irreführender Begriff, weil Jaß keinen Fall, den ihm ein Kriminalpolizist aus einem Berliner Bezirk schildert, einfach ablehnen kann. Er muss prüfen, oft anhand nur dürrer Fakten, ob das Verbrechen in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Den Fall des Unbekannten, der in der Woche zuvor einen Stein auf die Stadtautobahn geworfen hatte, hat er kurz anrecherchiert. Ein Steinwurf kann ein versuchtes Tötungsdelikt sein. Doch es stellte sich heraus, dass der Stein klein war, und der Schaden am getroffenen Auto gering.

Am kalten Winterwetter liege es nicht, dass es so ruhig ist in der Stadt, glaubt Jaß. „Morde passieren bei jeder Jahreszeit und Mondphase.“ Damit spielt er auf die Einschätzung einer ehemaligen Kollegin an, dass sie die Mordkommissare vor Vollmondnächten besonders viel zu tun hätten.

Berlins Mordrate ist seit Jahren konstant, die Aufklärungsquote liegt über 90 Prozent. Ein Streit, der zu Messerstechereien ausartet, ein Mann, der an seiner Frau Rache nimmt, die sich trennen will. Das sind die klassischen Verbrechensmuster in der Stadt. Als neue Straftat sind Amokdrohungen hinzugekommen. „Erst seit Erfurt ist es ein Thema“, sagt er. Jaß zeigt ein Foto: In Kinderschrift steht da „Morgen Amok“ an eine Tafel geschrieben. Fast hundert ähnlichen Fällen mussten die Mordkommissionen vergangenes Jahr nachgehen. „Häufig will sich einer nur vor einer Klassenarbeit drücken und hofft, dass die Schule zugemacht wird.“

Jetzt klingelt das Telefon. Jaß nimmt ab, zieht ein weißes Blatt Papier aus dem Drucker, schreibt sich Stichpunkte auf: ein Liebesdrama unter Migranten, mehr darf er nicht sagen. Er lehnt den Fall ab, er ist nicht zuständig.

Die Tragödien der Großstadt branden bei Bernhard Jaß an. Er lässt sie nicht an sich heran. Nur wenn sie einen Mörder suchen, lassen ihn die offenen Fragen selbst im Bett nicht los. Im Fall des Buchhalters Mario G. rückte ein Rumäne in ihren Fokus, der in den letzten Wochen vor G.s Tod bei ihm gewohnt hatte. Nach dem Verbrechen war er nie mehr aufgetaucht. Schließlich wurde er in Rumänien festgenommen. In diesen Wochen wurde er ausgeliefert. Thomas Ruf vernahm ihn, zusammen mit einer Kollegin. Der Mann verweigerte die Aussage.

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