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Berlin: Tausche Alu-Chip gegen Westmark

Trotz aller Warnungen der Finanzexperten wurde die DDR über Nacht dem Wettbewerb ausgesetzt – weil die Menschen es so wollten

Von Matthias Schlegel

Juni 2005. Vor einer Imbissbude am Ostseestrand plärrt eine erregte sächsische Stimme: „Drei Euro für eene Fischsemmel? Das sin’ sechs D-Mark. Das sin’ nach Einszufünf-DDR-Schwarzmarktkurs 30 Ostmark. 30 Mark für eene Fischsemmel – seid ihr bleede?“

In vier knackigen Sätzen hat der Mann unter standhafter Ignorierung der Inflationsrate nach 15 Jahren das ganze Dilemma auf den Punkt gebracht, das damals als Währungs-, Wirtschafts- und Sozialreform startete. Viele Skeptiker, als prominentester der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, hatten davor gewarnt zusammenzuführen, was nicht zusammengehörte: den schwachen, nicht konvertierbaren „Alu-Chip“ mit einer starken Währung, eine marode, weithin unproduktive mit einer effizienten, weltweit konkurrenzfähigen Wirtschaft. Einen von überbordener staatlicher Alimentierung geprägten Fürsorgeapparat mit einem eingespielten Sozialsystem. Nicht einmal ein Drittel der ostdeutschen Betriebe wirtschaftete Anfang des Jahres 1990 rentabel. Bei einem Bruttoinlandsprodukt von 350 Milliarden DDR-Mark hatte die Wirtschaft eine Schuldenlast von 400 Milliarden angehäuft.

Würden Ost und West mit einem Umtauschkurs von 1:1 aneinander gefügt, setzte man die DDR-Betriebe plötzlich einem internationalen Wettbewerb aus, den die meisten nicht bestehen könnten, warnten Wirtschaftsverbände. Sachverständigenrat und Bundesbank rieten, zunächst Schutzzölle für die DDR-Wirtschaft einzuführen und die allmähliche Konvertibilität der Ost-Mark herzustellen. Die unvermeidbare Arbeitslosigkeit in der DDR, so mahnten die Wirtschaftsexperten, werde die Bundesrepublik ökonomisch über die Maßen belasten.

Doch im Regierungslager hüben wie drüben sah man das anders: Die politischen Weichen hätten längst andere gestellt – die, die aus der DDR schon zu hunderttausenden „rübergemacht“ hatten und die, die das Gleiche mit der stringenten Forderung androhten: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“

Hatten Bundesbank und Finanzministerium zunächst dafür plädiert, Löhne, Gehälter und Renten 2:1 umzustellen, setzt sich die DDR-Seite mit der Forderung der 1:1-Umstellung durch. Vereinbart wird auch, dass Geldbestände gestaffelt umgetauscht werden: Kinder bis 14 Jahre können 2000 Mark, 15- bis 59-Jährige 4000 Mark und über 60-Jährige 6000 Mark im Verhältnis 1:1 wechseln. Für darüber liegende Beträge gilt der Kurs 2:1.

In den Familien werden nun die Bankkonten heftig „umgerubelt“: Überzählige Sparsummen von Oma und Opa werden zeitweilig auf die mageren Konten der Nachkommen transferiert, um die 1:1-Möglichkeiten auszuschöpfen. In der Nacht zum 1. Juli setzt dann nicht nur die größte Geldumtauschaktion in der Wirtschaftsgeschichte ein – 180 Milliarden D-Mark werden am 1. Juli an DDR-Bürger, Institutionen und Betriebe ausgezahlt. Es vollzieht sich auch eine West- Ost-Warenbewegung, die an eine groß angelegte Hilfsaktion für ein unterentwickeltes Land erinnert. Die Sache hier hat freilich ihren Preis – von nun an in West-Mark. In den Regalen rücken die Ostprodukte nach hinten oder verschwinden gänzlich. Das, was die Vereinigungsskeptiker den „Ausverkauf der DDR“, Wohlmeinendere einen „schmerzlichen Transformationsprozess“ nennen, nimmt seinen Lauf.

Bundeskanzler Kohl verspricht am 1. Juli im Fernsehen: „Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.“ Der SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine nennt dies „das Fehlurteil des Jahrzehnts“. Die Menschen vertrauen den Optimisten: Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 verteidigt die schwarz-gelbe Koalition ihre Mehrheit.

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