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Stricken für die Solidarität.

© dpa

Tauschringe in Berlin: Die Masche ohne Geld

Biete Selbstgestricktes, suche Haarschnitt: Tauschringe haben großen Zulauf – und das seit nunmehr 20 Jahren. Hier trifft nachbarschaftliche Hilf auf die Anonymität der Großstadt, die auch vor dem Alterheim nicht halt macht.

Kerstin Zimmermann strickt für ihr Leben gern. Quietschbunte Socken, flauschige Filzpantoffeln – oder Mützen, die man am liebsten gleich auf dem Kopf lassen würde. Das alles und noch viel mehr bietet die studierte Betriebswirtin feil. Allerdings nicht für Geld: Kerstin Zimmermann gehört seit mehr als zwölf Jahren dem Tauschring in Friedrichshain an. Etwa 80 Mitglieder bieten dort Fähigkeiten oder Produkte zum Tausch gegen andere Sach- und Dienstleistungen an.

Für Zimmermans Unikate gibt es bis zu 60 „Tausch-Taler“ auf der Internetplattform des Rings, der denkbar einfach funktioniert: „Unsere Währung ist die Lebenszeit, die wir investieren, abgerechnet in Taler, die in ein persönliches Tauschkonto eingetragen werden,“ sagt die 35-jährige. Eine Stunde Lebenszeit entspricht 20 Talern.

Auf den Konten der Tauschen-ohne-Geld-Website, kurz ToG genannt, wird jedes Geschäft zwischen den Mitgliedern verbucht. Wobei der jeweilige Kontostand weder Reichtum noch Armut abbildet, da es sich lediglich um „Leistungsversprechen“ handelt. Folglich kann man auf einem Tauschringkonto, im Gegensatz zu einem normalen Bankkonto, auch keine Reichtümer anhäufen. „Der Vorteil ist, dass man es auch nicht groß überziehen kann“, sagt Zimmermann. Es gibt nämlich ein Limit von maximal 200 Minus-Talern.

Viele können sich durch die Mitgliedschaft im Tauschring etwas leisten, wofür sie normalerweise kein Geld hätten. So geht Zimmermann regelmäßig zur professionellen Massage, die im Tauschring angeboten wird. „Diesen Luxus würde ich mir sonst nicht gönnen“, gibt Zimmermann zu, die hauptberuflich als Finanzbuchhalterin arbeitet.

Der Tauschring ist der Finder für alles

Im Tauschring sind den Möglichkeiten hingegen kaum Grenzen gesetzt: Von A wie Abwasch machen bis Z wie Zaubertricks. Bei einem verstopften Abfluss kommt der Klempner aus dem Tauschring vorbei. Der Rechner ist kaputt? Ein Computerspezialist hilft. Blumengießen oder Katzensitting während des Urlaubs? Kein Problem. Anders als in der freien Wirtschaft sind sämtliche Arbeiten und Produkte von jeglicher Haftung ausgeschlossen. Alles basiert auf dem persönlichen Vertrauen der Mitglieder, was bedeutet, dass etwa ein Haarschnitt oder eine Regalmontage auch schon mal danebengehen kann. Deshalb werden die Angebote von den Mitgliedern auch nur als „Hilfe“ deklariert. „Beim Tauschring steht klar der Aspekt der nachbarschaftlichen Hilfe im Vordergrund“ , sagt Zimmermann, die damit den Vorwurf der Schwarzarbeit entkräften will.

Nachbarschaftliche Hilfe gegen Anonymität der Großstadt

Rolf Sindermann sieht das ebenso. Für den Initiator des „Tauschrings Neuköllner Nachbarn“, wo es den „Rixtaler“ gibt, geht es um den Beitrag zu einer „dichteren Nachbarschaft". Vor mehr als zweieinhalb Jahren von ihm ins Leben gerufen, zählt der Neuköllner Tauschkreis rund 150 Mitglieder. „Damals war die Wirtschaftskrise noch frisch in unseren Köpfen“, sagt der 31-jährige Besitzer des Cafés „Dritter Raum“ in der Hertzbergstraße, wo der Tauschgemeinschaft jeden Mittwoch Abend Räume für einen Infoabend zur Verfügung stehen. Weg von der Anonymität der Großstadt, hin zur nachbarschaftlichen Hilfsgemeinschaft im Kiez. „Die Tauschringe werden an Bedeutung gewinnen, wo konkrete Notsituationen entstehen. Zumal sie relativ gut organisiert sind“, sagt Sindermann. Dass sie auch in besseren Zeiten durchaus ihre Berechtigung haben, das beweist die steigende Zahl neuer Aufnahmeanträge. „Zu groß wollen wir allerdings auch nicht werden“, sagt der Vereinsgründer und nennt die maximale Zahl von 250 bis 300 Mitgliedern. „Es muss überschaubar bleiben.“

Der Tauschring als Spiegelbild der Gesellschaft

Auch wenn es sich um Gleichgesinnte handelt – dann und wann gibt es auch mal Reibereien. „Der Tauschring ist schließlich ein Spiegelbild der Gesellschaft“, sagt Will Paine vom Friedrichshainer Tauschkreis. „Bei uns sind so ziemlich alle Altersklassen und Berufe vertreten“, sagt der 51-jährige Brite, „von der erfolgreichen Unternehmerin bis zum Hartz IV- Empfänger, vom Rentner bis zur jungen Familie mit Kindern.“ Wobei die Status-Daten der Mitglieder aus Sicherheitsgründen nur anonym erfasst werden, ergänzt Zimmermann.

Die Mitglieder eines Tauschrings spiegeln in der Regel auch den jeweiligen Bevölkerungsdurchschnitt ihres Kiezes. Was im Falle von Friedrichshain bedeutet, dass der Altersdurchschnitt zwischen 25 und Mitte 40 besonders stark vertreten ist, sowie Menschen, die häufiger in kreativen Berufsbranchen anzutreffen sind. Ähnlich sieht es in Neukölln aus, wo die „Kerngruppe“ aus Mittzwanzigern bis Mittvierzigern besteht. Vor einem Problem stehen die Tauschringe aber: Was passiert, wenn ein Mitglied nicht mehr aktiv sein kann? Schließlich wird jeder mal alt.

Auch der Umzug ins Altersheim wird organisiert

Dieser Aspekt habe so manchen nachdenklich gemacht, sagt Kerstin Zimmermann. „Der Tauschring ist ja nichts Statisches“, sagt Paine. „Er funktioniert durch die Menschen, die ihn ausmachen. Folglich entwickelt er sich laufend weiter und passt sich an die Bedürfnisse an.“ Im Tauschring Neuköllner Nachbarn wurde unlängst ein Aufruf über den internen E-Mail-Verteiler der Tauschgemeinde gestartet, sich stärker für all jene zu engagieren, die Hilfe benötigen. „So kam zum Beispiel der Umzug für eine alte Dame ins Altersheim zustande, möglich gemacht durch viele helfende Hände, die keine Rixtaler verlangten“, wie Rolf Sindermann erzählt.

Tauschbereit. Kerstin Zimmermann bietet Unikate an.
Tauschbereit. Kerstin Zimmermann bietet Unikate an.

© Alicia Rust

Hoch im Kurs stehen jedenfalls handwerkliche Fähigkeiten. Aber nicht jeder ist handwerklich begabt. Doch jeder verfügt über Fähigkeiten, die ihn wertvoll für andere machen: Z wie Zuhören zum Beispiel. Dazu braucht es kein Zertifikat. „Im Tauschring geht es um die Gleichbewertung von Arbeit, bemessen in Zeit,“ sagt Will Paine. Viele empfinden den Wert von Dienstleistungen und Waren aus dem Tauschring weitaus gerechter als die Bezahlung in der freien Wirtschaft, in der Banker, Manager, Anwälte oder Mediziner mitunter locker den 10- bis 100-fachen Stundenlohn einer Reinigungskraft oder eines Erziehers verdienen. In einer Zeit, wo die Schere zwischen Armut und Reichtum immer weiter auseinander geht, seien Tauschringe zudem eine ernst zu nehmende und wertvolle Alternative, sagt Will Paine, der die Bewegung auch ein Stück weit als Kapitalismuskritik verstanden wissen will. „Ich würde mir wünschen, dass die Leute ihre Angst davor verlieren, weniger Geld zu haben,“ sagt der 51-jährige Übersetzer. „Dass die Menschen merken, dass ihre Lebensqualität nicht zwangsläufig vom Einkommen abhängig sein muss.“

Gelebte Volkssolidarität mit bunten Socken

Zwanzig Jahre Tauschring in Deutschland haben gezeigt, dass eine sozialere Ökonomie durchaus möglich ist. Für Kerstin Zimmermann und Will Paine ist das Modell allerdings noch viel mehr als nur eine Plattform, auf der Waren- oder Dienstleistungen ausgetauscht werden. „Für mich gibt es keine überzeugendere Form der gelebten Volkssolidarität. Das System ist schon genial“, sagt Paine. „Außerdem lernt man hier Menschen kennen, denen man sonst vermutlich nie begegnet wäre.“ Menschen, die in ihrer Freizeit zum Beispiel gern bunte Socken stricken.

Alicia Rust

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