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Berlin: Tausende Sozialhilfeempfänger ziehen vor die Gerichte

Wirtschaftliche Lage, strengere Prüfung, höhere Ansprüche: Rechtsprechung überlastetVON HANS TOEPPEN BERLIN.Der Weg in die Sozialhilfe ist abschüssiger geworden und der Kampf um das Staatsgeld härter.

Wirtschaftliche Lage, strengere Prüfung, höhere Ansprüche: Rechtsprechung überlastetVON HANS TOEPPEN BERLIN.Der Weg in die Sozialhilfe ist abschüssiger geworden und der Kampf um das Staatsgeld härter.Das Berliner Verwaltungsgericht beschäftigt seit der vorigen Woche schon seine fünfte Kammer mit Sozialhilfesachen.Eine Notbremse - allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres ist die Zahl der Anträge und Klagen um über 50 Prozent auf fast 900 gestiegen.Die Ursache für den Andrang der Sozialhilfeempfänger liegt, so vermutet das Gericht, in der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und auch in einem strengeren Umgang der Sozialämter mit den knappen öffentlichen Kassen.Der Tiergartener Sozialstadtrat Diethardt Rauskolb sieht noch einen weiteren Grund: "Die Leute sind heute weniger bereit, behördliche Entscheidungen hinzunehmen." 60 Prozent der Sozialhilfe-Fälle beim Verwaltungsgericht sind inzwischen Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, so sagt der Vorsitzende Richter Wilhelm Sander.Nur hierbei wird relativ schnell entschieden.Wer in die Hauptsache geht, muß wegen der Überlastung des Gerichts zwei bis drei Jahre warten - für die Kläger, denen es ums monatliche Geld geht,in der Regel wohl kaum eine tragbare Zeit.Vor allem bosnische Flüchtlinge, die sich mit ihren gekürzten Leistungen nicht abfinden wollen, haben das Gericht in der letzten Zeit massenhaft in Anspruch genommen. Bei Deutschen drehen sich nach Einschätzung von Sander 80 bis 90 Prozent der Fälle um die Größe der Wohung und um die Miete.Die Sozialämter zahlen nur - nach der Größe - für "angemessene Wohnungen", wobei die zulässigen Quadratmeterpreise außerhalb des sozialen Wohnungsbaus festgeschrieben sind.Einem Sozialhilfeempfänger sei auch eine Wohnung mit Ofenheizung zuzumuten, sagt Sander, aber "in den Osten will ja keiner ziehen." Ist die Miete ihnen zu hoch, übernehmen die Sozialbehörden gelegentlich nur einen Teil und überlassen dem Empfänger die Zahlung des Rests - ein heikles Problem, denn ein Sozialhilfeempfänger darf nichts dazuverdienen, und das Amt müßte sich also die Frage stellen, ob er "schwarze" Einkünfte hat.Aber man könnte auch davon ausgehen, sagt Tiergartens Sozialstadtrat Rauskolb, daß sich manche Sozialhilfe-Familie den Rest der Miete tatsächlich "vom Munde abspart." Umso begehrter sind da Sozialwohnungen, in denen die Sozialämter die volleMietlast tragen.Allerdings sind die Mieten hier teilweise schon so hoch, "daß sich nur ein Sozialhilfeempfänger das leisten kann", wie Kritiker gerne sagen.Normale Kleinverdiener scheiden aus. "Wir werden langsam ein Volk von Ausländern und Sozialhilfeempfängern", sagt der Vorsitzende Richter Sander ironisch, wenn er über sein Tätigkeitsfeld blickt."Ich mache das seit 20 Jahren, und in jedem Jahr ist die Zahl der Streitfälle gestiegen".Inzwischen schauten aber wohl auch die Sozialämter genauer hin, wem sie die Unterstützung gewähren.Stadtrat Rauskolb will das nicht ausschließen, er sieht aber noch einen weiteren Grund für die Prozesse: Vor allem bei Jüngeren "hat sich die Anspruchshaltung geändert".Sie akzeptieren nicht jede negative Entscheidung der Sozialämter. Die Zahl der Haushalte, die in Deutschland Sozialhilfe beziehen, ist mit der ständig wachsenden Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren ebenfalls drastisch in die Höhe gegangen.Ende 1995 (letzte verfügbare Zahl) erhielten 1,28 Millionen Familien "laufende Hilfe zum Lebensunterhalt", 11 Prozent mehr als im Jahr davor.Der Durchschnitt lag pro Haushalt bei 803 DM im Monat.Wichtigster Grund mit gut 33 Prozent ist Arbeitslosigkeit.Allein in den alten Ländern hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger zwischen 1982 und 1992 von 2,3 Milionen auf vier Milionen fast verdoppelt.Ein Drittel sind Jugendliche.

HANS TOEPPEN

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