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Gedenken mit Rollkoffer. Viele Touristen kommen am Anschlagsort vorbei und machen Fotos.

© Angie Pohlers

Terror am Breitscheidplatz: Sechs Monate nach dem Anschlag - was bleibt?

Kurz vor Weihnachten traf der Terror Berlin. An der Gedächtniskirche geht das Leben weiter, doch vergessen ist das Attentat nicht. Ein Ortsbesuch.

Noch immer stehen da Kerzen, mehrere Dutzend. Rotes Plastik, dicht gedrängt auf sechs Stufen und drei Metern Breite an der Nordseite der Gedächtniskirche, wo es immer schattig ist. Man muss aus der Sonne treten, um die Namen der Toten lesen zu können, die jemand auf ein paar Kerzen geklebt hat. Dann sieht man auch die kleine polnische Flagge für den Lkw-Fahrer Lukasz Urban. Sechs Monate ist es heute her, dass der Tunesier Anis Amri den Polen in der Fahrerkabine erschoss, das tonnenschwere Gefährt stahl und in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz lenkte. Dort starben elf weitere Menschen, 55 Menschen wurden teils schwer verletzt. Es war der 19. Dezember, gegen 20 Uhr, als der islamistische Terror Berlin traf. An den Zeitpunkt erinnert eine Uhr hinter den Kerzen, ihre Zeiger stehen still.

Und während in der Öffentlichkeit zuletzt vor allem diskutiert wurde, was vor dem Attentat über Amri bekannt war und ob Berliner Ermittler im Nachhinein Details unter den Teppich kehrten, ist hier ein Ort entstanden, an dem es um die Menschen und die Trauer geht. An diesem Sonntagvormittag flanieren vor allem Touristen vorbei, fast alle bleiben stehen, sobald sie die Kerzen sehen, die Kreuze, die paar Blümchen, den Aufsteller mit der Aufschrift „Wir trauern“. Und fast alle machen Fotos. Die Bilder vom Anschlagsort reihen sich in Aufnahmen vom Ku’damm, vom Brandenburger Tor, vom Flohmarkt am Mauerpark ein. Eine Gruppe Amerikaner stoppt, eine Stadtführerin rekapituliert die Ereignisse, alle nicken betroffen. Der Anschlag gehört jetzt zu Berlin, er hat sich eingeschrieben in die Geschichte der Stadt.

"Wir fürchten, dass etwas Ähnliches auch in Italien passieren könnte"

Auch Gabriele Amore fotografiert die Kerzen. Seine Frau Gisella zeigt auf das Bild von Fabrizia die Lorenzo – die 31-Jährige war das einzige italienische Opfer der Attacke. Der vierjährige Sohn Eduardo nestelt unsicher an seinem T-Shirt. „Natürlich haben auch italienische Medien viel darüber berichtet“, erzählt Gisella Amore. Am Abend zuvor hat die kleine Familie zufällig entdeckt, dass der Ort des Anschlags nur ein paar Schritte von ihrem Hotel entfernt ist. Nun, wenige Stunden vor ihrer Heimreise, sind sie nochmal vorbeigekommen. „Wir fürchten, dass etwas Ähnliches auch in Italien passieren könnte, in Rom oder Florenz, wo es viele Touristen gibt.“

Aber, sagt ihr Mann und zuckt mit den Schultern, die Angst habe sie nicht davon abgehalten, sich das Brandenburger Tor anzuschauen. Molto bello, schwärmen die beiden, während hinter ihnen die Velothon-Radler vorbeirasen und die Gottesdienstbesucher aus der Kirche strömen.

"Wie wahrscheinlich ist es, dass die hier noch einmal zuschlagen?"

Ein paar Schritte weiter öffnen einige Männer das erste oder zweite Bier des Tages. An die Passanten, die alle paar Sekunden stehenbleiben, haben sie sich längst gewöhnt. Und auch die Betonpoller rund um den Platz fallen kaum auf. Dabei sehen sie aus, als seien sie gerade erst aufgestellt worden – nicht ein Aufkleber, nicht ein Graffito auf den glatten, hellgrauen Blöcken, selbst nach einem halben Jahr.

„Jaja, die Poller. Ich fühle mich trotzdem nicht immer sicher“, sagt eine ältere Frau, die am Fuße der Treppen steht. „Obwohl – wie wahrscheinlich ist es, dass die genau hier noch einmal zuschlagen?“ Sie wohnt nicht weit weg, früher sei sie oft auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Jetzt freut sie sich über die Menschen, die sich ein paar Momente nehmen, innehalten und an den Tag, an die Opfer, zurückdenken. "Gibt es nicht schon Pläne für einen Gedenkstein?" Ja, gibt es, wie jetzt bekannt wurde.

"Es ist ganz anders als im Fernsehen"

Martin Schwelm aus Moers am Niederrhein findet, das habe noch Zeit. „So wie jetzt mit den Kerzen ist das doch in Ordnung im ersten Jahr und auch wichtig für die Angehörigen.“ Zusammen mit seiner Lebensgefährtin verbringt er das Wochenende in Berlin. Bummeln, alte Freunde treffen, die Sonne genießen. Ein mulmiges Gefühl habe sie in großen Menschenmengen schon, sagt Sabine Wilhelmi. Und schiebt hinterher, was man nach den Terrorattacken der letzten Zeit immer wieder hörte: „Wir lassen uns davon aber nicht abhalten, das zu machen, worauf wir Lust haben.“

Nur jetzt, an der Stelle, an der aus dem mulmigen Gefühl grausame Realität wurde, fühle sich der Terror nochmal ganz nah an. „Es ist anders als im Fernseher, weniger anonym. Man fängt an zu schlucken und man versteht, dass es jeden hätte treffen können.“

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