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 Waltraud Schulz (rechts) bringt Tatiana Heide das Stricken bei. Wie Freddy war auch ihr zweiter Mann ein Migrant. Für sie gehört das zu Neukölln dazu.

© Alexander Ebeert

Theater in den Straßen Berlins: Auf Freddys Spuren

„Finding Freddy“, das neue Stück am Heimathafen Neukölln, führt Besucher quer durch den Bezirk und zurück in die Zeit des Nationalsozialismus.

„Wer ist denn nun Freddy?“, fragt einer der rund 30 Besucher im Seniorenwohnhaus in der Neuköllner Rollbergstraße. Die Antwort der Veranstalter ist ein Cliffhanger: Das werde man jetzt erfahren. Der Heimathafen Neukölln nimmt die Besucher im Theater-Parcours „Finding Freddy“ mit auf einer Spurensuche quer durch Nord-Neukölln.

Wer war Alfred „Freddy“ Schorn? Ein Halbjude, ein Hitlerjunge. Zwangsarbeiter, aber auch Spion. Erst Neuköllner, dann US-Amerikaner. An acht Station treffen die Zuschauer und Flaneure nicht nur auf ihn und sein Leben, das dokumentiert wurde, sondern auch auf Menschen, die ihn gekannt haben könnten. Sie sind in seinem Alter, lebten wie Freddy zu NS-Zeiten in Neukölln und sind noch immer hier. Sie erzählen aus ihren Leben; Freddy ist nie weit.

Im Seniorenheim

Im Seniorenwohnhaus öffnen sich plötzlich die Türen. Drei Frauen sitzen an einer Bar und singen. Die Kanarienvögel im Käfig zwitschern mit. Dann erzählt Waltraud Schulz, Jahrgang 1934, von ihrem Leben in Neukölln, von ihren fünf Kindern, von ihrem zweiten Mann: „Am Herrmannplatz habe ich meine große Liebe gefunden. Einen türkischen Gastarbeiter. Aber wir waren immer sehr glücklich!"

Auch Freddy wurde 1947 zum Migranten, musste mit Frau und Sohn in die USA auswandern.

Schulz spricht von Kinderlandverschickung, von Flucht und neuer Heimat, von Erfahrungen, die viele Berliner ihres Alters während des Kriegs gemacht haben, und auch viele jüngere Neuköllner, etwa Tatiana Heide, die aus São Paulo nach Neukölln kam. Der Raum im Seniorenheim schrumpft gefühlt zusammen, bekommt die Atmosphäre eines großelterlichen Wohnzimmers. Dann beginnt die Suche nach Freddy.

Seit April haben Regisseurin Stefanie Aehnelt und ihr Team recherchiert, Darsteller gesucht, sich mit Seniorenkreisen auseinandergesetzt und dabei nicht nur ein Theaterstück entwickelt, sondern auch einen Spaziergang. Aehnelt wollte, dass sich die Besucher den Orten nähern, an denen Freddy früher war. „Außerdem soll man zu den Senioren hingehen, ihre Welt kennenlernen und es ihnen so auch körperlich ermöglichen, überhaupt teilzunehmen“, erklärt die Regisseurin.

Sich nicht nur auf die Geschichte Freddys zu konzentrieren, sei wichtig, damit das Stück nicht zu museal wird. „Wann sprechen wir schon mal mit älteren Menschen, wenn es nicht die eigenen Großeltern sind?“ Die Begegnung zwischen den Schauspielern verschiedenen Alters und den Zuschauern ist ihr wichtig.

Auf Freddys Straßen

„Wenn ich an Neukölln denke", sagt Freddy, „denke ich an das Warenhaus Joseph. Da konnte man fast alles kaufen!“ Seine jüdische Mutter saß dort am Klavier und verkaufte Notenblätter, bis der Besitzer, ein Jude, 1936 enteignet und das Haus „arisiert“ wurde.

Nun hängt gegenüber an der alten Post auf der Karl-Marx-Straße, wie an allen anderen Orten des Spaziergangs, ein Kasten mit Postkarten. Denn nicht alle Stationen des Spaziergangs bieten kleine Inszenierungen. Dafür kommt auf den Karten Freddy zu Wort, erzählt von seinem Leben, lässt einen kleinen Blick in das Neukölln der NS-Zeit und in sein Inneres zu.

Später mit einem Audio-Guide, der über die Donaustraße führt, tauchen die Besucher ein in die Nachkriegszeit, die Zeit als Freddy für die Amerikaner spioniert, im russischen Sektor spitzelt und ehemalige Nazis ausfindig macht. Bald wird er enttarnt: „Mein Chef hat gesagt: Hau ab! Hier wird niemals Frieden sein.“ Er flieht mit der Familie nach New York. Dort baut er sich trotz aller Strapazen, der Fremde, der Sprachlosigkeit im Englischen ein neues Leben auf.

Ingeborg Müller (links) und Nora Decker spielen ihre Szene auf dem Dachboden der Kirche, in der Freddy geheiratet hat.
Ingeborg Müller (links) und Nora Decker spielen ihre Szene auf dem Dachboden der Kirche, in der Freddy geheiratet hat.

© Alexander Ebeert

Als er ausholt, um von seiner Heirat zu erzählen, bricht die Stimme – dieser Teil seiner Geschichte hat mit der Deportation seiner Mutter zu tun. Nach dem Krieg holte er sie aus Theresienstadt zurück, zu Fuß, nur mit einer Sackkarre, weil die ausgemergelte Frau nicht mehr laufen konnte. Erst danach wollte er „seine Gretl“ heiraten.

Auf dem Hof der Elbe-Schule

Wenige Straßen weiter, auf dem staubigen Dachboden der Martin-Luther-Kirche und im Hof der Elbe-Schule erzählen Inge Müller, Jahrgang 1927, und Bruno Pfeffer, Jahrgang 1933, von ihrer Kindheit und Jugend. Von der ersten großen Liebe, von Kinderspielen. Von Vätern und Männern, die nicht über Gefühle sprechen können.

Meda Gheorghiu-Banciu und Bruno Pfeffer beim Murmeln. Wer Glück hat, darf während der Aufführung mitspielen.
Meda Gheorghiu-Banciu und Bruno Pfeffer beim Murmeln. Wer Glück hat, darf während der Aufführung mitspielen.

© Alexander Ebeert

Pfeiffers Vater musste die Familie verlassen und in den Krieg, ebenso wie all seine Brüder, trotzdem sagt er, für ihn und seine Mutter, sei das die schönste Zeit gewesen. „Nicht wegen des Kriegs, sondern, weil der Alte endlich weg war.“

Und Pfeiffer schildert auch die ersten Zeichen des Antisemitismus, die er miterlebt hat: In seiner Klasse an der Elbe-Schule – er war ein paar Jahre nach Freddy dort eingeschult worden – gab es keine jüdischen Kinder. „Ich vermute, dass zu dem Zeitpunkt schon alles ‚bereinigt‘ war.“ Freddy musste in seiner Klasse ganz hinten sitzen, so erfuhr er, dass er Halbjude war, und lernte das Konzept Judenhass kennen.

Willkommen im Grünen

Renate Babkuhl, 1940 geboren, empfängt die Zuschauer in ihrem Garten im Hinterhof an der Weserstraße. Als Mädchen wohnte sie neben Freddy. Der hat seine Sommer immer mit anderen Nachbarn, den Köhlers, in deren Britzer Laube verbracht. Niemand dort wusste, dass er Halbjude ist, die Leute dachten, er sei Freddy, der Sohn der Köhlers. Dabei hieß er Alfred Schorn. „Ich habe unter zwei Namen gelebt.“

Diese Zeit war eine Verschnaufpause für den Jugendlichen. Während Freddy nach dem Krieg die Stadt verlassen musste, blieb Renate Babkuhl zeitlebens in Neukölln. Heute berichtet sie über die Veränderungen im Bezirk und führt in das kleine Zimmer, das Freddy und seine Mutter bei den Köhlers gemeinsam bewohnten. Für mehr hatten die beiden kein Geld.

Familienfotos hängen an den Wänden, Pappaufsteller zeigen, wo früher die Möbel standen in der Wohnung, die heute eine Arztpraxis ist.

Es ist der Abschluss des Abends: Ein Film zeigt Freddy in Neukölln, bei seinem letzten Besuch, bevor er im April dieses Jahres starb. Er lacht und erzählt glücklich von seinem Leben, erkennt manche Orte aber auch nicht wieder. Ein lustiger alter Mann, der viele Geschichten zu erzählen hat.

Schließlich, am Ende des „Roadwalk“, des spazierten Theaterstücks, hat man Freddy ein bisschen kennengelernt – den Spion, den Halbjuden, der in einer Laube wohnte.

„Finding Freddy“, am Samstag und Sonntag ab 17 Uhr. Der Startpunkt wird auf heimathafen-neukölln.de bekanntgegeben. Abendkasse 16 Euro, ermäßigt 10 Euro.

Johannes Drosdowski

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