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Streichel mich. Eva Kullmann (rechts) bringt mit ihrem Kater Mogli etwas Wärme in die dunkle Welt der stark demenzkranken und blinden Seniorin.

© Thilo Rückeis

Therapie mit Tieren: Ein Kater holt demente Menschen aus ihrer Dunkelheit

Eva Kullmann besucht mit ihren Katzen in Berlin bedürftige Menschen – um ihnen mit den Tieren Lebensfreude zu vermitteln.

Die rechte Hand von Erika Berghoff* liegt auf der Tischplatte neben einer roten Tasse. Sie ist so dünn, diese Hand, sie wirkt so zerbrechlich wie kostbares Porzellan. Dann gleitet die Hand langsam nach vorne, bis die Finger seidene Haare spüren. Erika Berghoff ist 90 Jahre alt, sie ist blind, sie kann Mogli nicht sehen, aber sie spürt sein Fell, sie streichelt sanft über seine Haare, sie hört das behagliche Schnurren des Katers. Eva Kullmann hat ihre Hand zum Fell geführt, ganz vorsichtig, als fürchte sie, es könnte etwas zerbrechen.

„Geht’s der Katze gut?“, fragt die 90-Jährige. Eva Kullmann sitzt neben ihr und lächelt. „Ja, der Katze geht’s gut.“ Sie hebt die rechte Hand, Mogli schaut auf, er hebt die rechte Pfote, als wollte er seine Besitzerin lässig grüßen. Erika Berghoff streicht wieder langsam übers Fell. „Die Katze ist freundlich“, sagt sie. „Wenn sie nicht freundlich wäre, würde sie nicht kommen.“ Mogli lässt sich vorsichtig nieder, dann schnurrt er. „Jetzt liegt Mogli zwischen Ihren Armen, Frau Berghoff“, sagt Eva Kullmann, „Hören Sie ihn schnurren?“ Die 90-Jährige sagt nichts, aber man sieht ihren Gesichtsausdruck und glaubt ein Lächeln zu erkennen.

Erika Berghoff ist hochgradig dement

Erika Berghoff hat für Momente diese Welt verlassen, in der nur sie lebt und die so abgeschlossen ist vom Alltag ihrer Umgebung. Die 90-Jährige ist hochgradig dement, sie weiß nicht, dass sie im Lutherstift in Steglitz lebt, sie weiß nicht, dass sie gerade mit sechs anderen sehr dementen Menschen, fünf Frauen und einem Mann, im Aufenthaltsraum sitzt, einer Wohlfühlzone mit Sesselgruppe, Piano, Bildern an der Wand. Aber sie weiß, dass sie gerade eine Katze gestreichelt hat und dass es der gut geht. Mogli ist die Brücke zu ihrem früheren Leben.

Und Eva Kullmann ist die Frau, die diese Brücke baut. Eine Juristin, die „es glücklich macht, wenn ich Menschen etwas Gutes tue“. Eine Expertin für Mietrecht, die „vergisst, was im Büro passiert ist, wenn ich hier bin“. Als die 54-Jährige durch die Tür trat, mit Mogli in seinem Katzenkäfig, hielt sie kurz an, blickte in die Runde und verkündete fröhlich: „Die Frau mit der Katze ist wieder da.“

Die Seniorinnen erzählen von ihren Katzen

Mogli ist zum Beispiel für Marianne Becker da, die feststellt, dass er „eine Diva ist“, weil er erst an den Blumen auf dem Tisch schnuppert, bevor er zu den Händen geht, die sich ihm entgegenstrecken. Oder für Gertrud Neukirch, die Mogli unbedingt auf ihren Schoß nehmen will. Aber Mogli mag das nicht, und Eva Kullmann sagt ihr das auch. Dann erzählt Erika Neukirch, die 88-Jährige, von früher. „Ich hatte fünf Katzen, sie haben im Garten gelebt, wir hatten einen großen Garten.“ Auch Renate Berger erzählt von ihrem Garten, von ihren Blumen. „Frau Berger“, fragt Eva Kullmann, „muss man mit Blumen sprechen? Wachsen die dann besser?“ – „Dann blühen sie besser.“

Mogli holt alle aus ihrer sonst so abgeschlossenen Welt, er läuft zu jedem, lässt sich streicheln, schnurrt. Ewa Olania beobachtet zufrieden die Szenerie, während sie sich an eine Kommode lehnt. An ihrem Kleid steckt ein Namensschild, auf dem „Pflegefachkraft“ steht. „Die Katze löst Erinnerungen aus“, erklärt sie. „Viele hatten früher auch Katzen. Die Senioren freuen sich, wenn die Katze kommt.“

Einmal pro Woche taucht Eva Kullmann mit Mogli auf. Die Juristin hat ihre Arbeit so verinnerlicht, dass sie einen Verein gründete. Das „Projekt Tiertherapie – Lebensfreude auf vier Pfoten“.

Zwischen der Eva Kullmann, die liebevoll mit Erika Berghoff redet, und der Eva Kullmann, die „schweißgebadet“ im Lutherstift saß, liegen inzwischen acht Jahre. In ihrer Rolle als Helferin ist sie ja eher gestolpert als geeilt. 2011 landete die Anwältin im Vorstand des Pilger-Vereins „Hosianna“, so fing alles an. Eva Kullmann hat mit Religion nichts am Hut, aber der Verein benötigte eine Juristin in der Führung. Jemand sprach sie an, sie willigte ein.

Und da „Hosianna“ sozial engagiert ist, beschlossen die Mitglieder, sich um einsame Menschen zu kümmern. Ein Sozialarbeiter schlug Eva Kullmann die Demenzgruppe im Lutherstift vor. Die studierte dann erst mal „das Internet rauf und runter“. Wie geht man mit dementen Menschen um? Wie bekommt man Kontakt zu ihnen? Noch nie hatte sich die Juristin um solche Fragen kümmern müssen.

Die Antwort strich um ihre Füße. Mogli und Baghira, ihre Katzen, sollten Eva Kullmanns Unsicherheit verringern. Vielleicht könnte sie ja über die Katzen den Kontakt zu den Senioren herstellen, überlegte sie. Ein Experiment, das nur teilweise gelang. Nach dem ersten Besuch stellte Eva Kullmann nicht bloß fest, dass sie schweißgebadet war, sondern auch, dass es mit zwei Katzen auf Dauer ziemlich anstrengend sein würde. „Zwei lassen sich nicht beaufsichtigen“, sagt sie heute. Nach ein paar Besuchen schnurrte nur noch Mogli im Lutherstift.

Mogli ist für seinen Auftritt dressiert worden

Der Kater ist auf der Tischplatte pflegeleicht. Er legt sich hin, wenn Eva Kullmann ein Zeichen gibt, er hebt die Pfote, mal die linke, mal die rechte, je nach Aufforderung. Keine Katze macht so etwas auf Anhieb, Mogli ist quasi dressiert, Ergebnis eines „Klickertrainings“. So nennt sich die Methode. Der Klickton ertönt jedes Mal, wenn ein Tier die gewünschte Geste gemacht hat. Und zum Klicken gehört automatisch ein Leckerli als Belohnung. Nur klickerte Eva Kullmann nicht, sondern schnalzte mit der Zunge.

Aber nach 30 Minuten ist die Show vorbei, länger lässt sich Mogli nicht auf dem Tisch halten. Doch diese 30 Minuten fallen wie warme Lichtstrahlen in die Dunkelheit der dementen Senioren. Sie reden mit Mogli, manche singen ihm ein Lied vor, es gibt Menschen, die ihr dauerhaftes Schweigen brechen und mit Mogli einen Ansatz von Unterhaltung führen. Und es gibt diesen extrem dementen Mann, der sich zu dem Kater beugte und sagte: „Hallo, Mogli.“ Eva Kullmann war so verblüfft, dass sie ausrief: „Habe ich das richtig gehört?“ Ja, hatte sie.

Und dann gibt es natürlich noch diese demente Frau, die alle Pfleger mit ihrer Aggressivität nervte, die bei Gruppensitzungen aber immer fehlte. Eher unbeabsichtigt lief sie Eva Kullmann zwei-, dreimal über den Weg. So lernte sie Mogli kennen, streichelte ihn, hörte sein Schnurren, und eine wundersame Entwicklung begann. Pfleger erzählten Eva Kullmann beeindruckt, dass die Frau auf einmal erträglich und friedlich auftrat.

Erinnerungen im Langzeitgedächtnis sind bei Dementen am leichtesten abzurufen, deshalb ist der Anblick der Katze für viele eine Reise in die Vergangenheit. Viele hatten selber Katzen, sie erzählen von ihren Tieren. Wer nicht weiß, dass hier eine Demenzgruppe sitzt, könnte im ersten Moment denken, hier fände eine ganz normale Unterhaltung statt.

Das Lutherstift ist allerdings nur ein Teil von Eva Kullmanns Arbeitsstrecke. Sie besucht auch ein Pflegeheim in Tempelhof, allerdings mit Baghira. Mogli ist dafür ungeeignet, er legt sich nicht in fremde Betten. Baghira hat damit keine Probleme.

Im Kinderhospiz Sonnenhof hatte die Juristin beide Katzen dabei, bei einem besonders emotionalen Erlebnis. Eva Kullmann besuchte ein achtjähriges Mädchen, das noch einmal eine Katze streicheln wollte. Und dann kam dieser Moment, in dem Baghira die Pfote über den Arm des Mädchens legte. Es war ein Moment, in dem einem Tränen kommen.

Diese Bilder, die direkt ins Herz treffen, haben Eva Kullmann klargemacht, dass sie Unterstützung benötigt. „Der Bedarf an solchen Begegnungen mit Tieren ist grenzenlos.“ Deshalb hat sie ihren Verein gegründet. Beim „Projekt Therapietiere“ besucht neben Eva Kullmann noch ein weiteres Vereinsmitglied mit seinen Katzen Seniorenheime und andere Einrichtungen. Weitere Mitglieder, die Katzen haben beziehungsweise einen Hund, werden gerade ausgebildet.

Der Verein benötigt dringend Mitglieder

Die 54-Jährige benötigt nicht bloß weitere Mitglieder, sie braucht für ihren Verein auch Geld. Die Tierbesitzer müssen Haftpflichtversicherungen abschließen, sie haben Tierarztkosten. Mogli und Baghira werden jährlich vom Tierarzt untersucht, es gibt Heime, die verlangen eine Bescheinigung, dass die Katzen geimpft und frei von Krankheiten sind. Natürlich wird auch auf Hygiene geachtet. Im Lutherstift wird nach jedem Besuch von Mogli gereinigt, alles in Absprache mit der Heimleitung.

Im Aufenthaltsraum läuft jetzt im Radio der Schlager „Barfuß im Regen“, Mogli liegt wieder zwischen den Armen von Erika Berghoff. Er ist jetzt 30 Minuten auf dem Tisch, er hat genug. Mogli richtet sich auf und läuft weg, der Schwanz ist aufgerichtet wie ein Sendemast. Erika Berghoff wird gleich wieder in ihre eigene Welt zurückkehren. Vorher aber, in der Welt, in die sie für Momente eingetaucht ist, sagt sie noch einen Satz, so lakonisch, dass er klingt wie sanfte Ironie. Erika Berghoff sagt: „Die Sprechstunde ist beendet.“

Kontakt zum Verein: www.projekt-therapietiere.de. *Die Namen der Demenzkranken wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Erkrankten geändert.

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