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Heimatverteidigung: Wolfgang Thierse, geboren in Breslau, ist ein Berliner Überzeugungstäter. Schwäbische Mundart ist seine Sache nicht.

© dpa

Thierse-Debatte: Berliner werden nicht gebacken

Wolfgang Thierse hat Recht. Schrippen müssen in Berlin nicht unbedingt Wecken heißen. Aber auch Schwaben haben in dieser Stadt ein Recht auf Heimatgefühl. Ein Plädoyer gegen die Zugezogenen-Xenophobie.

In Preußen kann jeder nach seiner Facon frühstücken, so ähnlich hat das Friedrich der Große mal formuliert. Darauf sollte sich auch Wolfgang Thierse, der Almöhi vom Prenzlauer Berg, besinnen, wenn er morgens zum Bäcker geht und sich über die vielen zugezogenen Schwaben aufregt, die ihm Wecken statt Schrippen verkaufen wollen. Ist doch egal, wie die Brötchen heißen. Ob Semmeln, Wecken oder Bagel – kommt eh überall dasselbe Mus drauf. Der Bundestagsvizepräsident, der in Thüringen aufwuchs, fürchtet um den Verlust des Berliner Heimatgefühls. Möglicherweise sind dem gebärtigen (Tippfehler wurde nicht verbessert!) Breslauer 40 Jahre Wahlheimat Prenzlauer Berg selbst zu lang geworden, der Wandel im Kiez scheint den Mann zu überfordern. Aber wo soll der alte Ossi-Bär noch hin? In Schlesien, wo man Brötchen ohne Längsspalte früher Schusterjungen nannte und verbilligt verkaufte, ist die deutsche Backkultur auch nicht mehr weit verbreitet.

Wir sollten es mit dem großen linksrheinischen Ignoranten Konrad Adenauer halten, der alles östlich der Elbe für sibirische Steppe hielt. In umgekehrter Perspektive ließe sich aus der Hauptstadt gesehen der gesamte Einzugsbereich, sagen wir, außerhalb des Berliner Rings, als Schwabenland bezeichnen.  Bemerkenswert ist, dass die Zugezogenen-Xenophobie vor allem ein Phänomen der Ex-Zugezogenen ist. Der Ur-Berliner (Klaus Wowereit et al) ist ja von Natur aus weltoffen und tolerant, und das nicht etwa wegen angeborener kosmopolitischer Gesinnung (die er als Großprovinzieller eigentlich nicht besitzt), sondern weil ihm in der Einwandererstadt, zu der andere sein Dorf gemacht haben, nie etwas anderes übrig blieb.

Der angelernte Berliner dagegen erkennt im Nachzügler zu Recht den Feind des mühsam errungenen Heimatgefühls. In ihm erblickt er sein verdrängtes Selbst unfreiwillig wieder: den Friesen-Schwaben, den westfälischen, sächsischen, links-rechtsrheinischen, bayerischen, vorpommerschen, südeuropäischen oder transatlantischen Schwaben, der er einst gewesen ist. Einmal die Koffer ausgepackt und das Ochsenblut vom Dielenboden abgezogen, dauert es dann, je nach Charakter- und Mentalitätsgewandtheit, ein paar Jahre, und aus dem Schwaben, wo immer er herkommt, wird ein eingeschworener Berliner, man schlägt, so gut und tief es in märkischem Endmoränensand eben geht, seine Wurzeln in dieser Stadt, oder besser, in einem Kiez. Denn am echtesten wird man ein Berliner als Kreuzberger, Friedrichshainer, Weddinger. Gelernte Prenzlauerberger oder Mitter haben es mit der Assimilation schwerer. Sie können noch so viele Berliner in die Welt setzen, ihr Authentizitätsdefizit werden sie nicht los. Sie bleiben Schwaben. Vielleicht halten sie deshalb so krampfhaft an ihren Wecken fest.

Thierse hat also Recht. Aber er ist ungerecht, und das sollte ein Sozialdemokrat nicht sein, schon gar nicht in Berlin. Denn wo wären wir ohne die Schwaben? Es hätte nie eine Hausbesetzer-Szene gegeben, keinen 1. Mai, kein Berlinopfer, keine Transitautobahnen. Und vermutlich auch keine Wiedervereinigung. Jedenfalls nicht ohne große Schwaben wie Helmut Kohl und Erich Honecker.

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