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Berlin: Thomas Symanek (Geb. 1960)

Die Lehren aus der Geschichte sind im Alltag zu ziehen, wann sonst?

An Feiertagen, in den Schulferien und in den langen Monaten seiner Krankheit führte Thomas Symanek sein Spaziergang in die Café-Bäckerei „Inci“ in der Wrangelstraße, jeden Morgen um 7 Uhr 45. Dort traf er Memeth, und sie beredeten die Weltlage, die Aufstiegschancen des FC Freiburg und die Veränderungen im Keuzberger Wrangelkiez.

Als „Multikulti“" noch kein Schimpfwort war, schickten die Zeitungsredaktionen ihre Fotoreporter in die Wrangelstraße, um bunte Bilder vom Leben in SO36 einzufangen. Hier trugen die alten Frauen Kopftücher und die jungen Mädchen nicht, die meisten Häuser waren in katastrophalem Zustand, die Spekulanten setzten auf Abriss und Neubau.

Damals kam Thomas nach Berlin und machte bei den Hausbesetzungen mit. Die Träume waren radikaler als das, was kam, aber immerhin konnten er und seine Mitstreiter den Kahlschlag verhindern. Auch wenn die Dachgeschosse teuer saniert wurden, blieben die Mieten darunter bezahlbar. In den Hinterhäusern konnte man auch mit Stütze noch einigermaßen leben. Das Leben fand ohnehin meist auf der Straße statt, im Zeitungsladen vorm Gemüseladen, am Dönerstand oder auch in der Liebfrauengemeinde, wo indische Nonnen vom Orden der Mutter Theresa eine Essenausgabe betreiben.

Das alles ist seit Jahren bedroht, Kreuzberg wird teurer, Kreuzberg wird schicker. Als im letzten Jahr dem Gemüseladen „Bizim Bakkal“ gekündigt wurde, war das wie ein Symbol für den ganzen Wandel. Thomas kopierte Handzettel und verteilte sie. Es gab bald viel mehr Unterstützer, als irgendwer erwartet hätte.

Der Laden wurde trotzdem geschlossen, aber das Nachbarschaftsbündnis gab Thomas Kraft, mit der Krebsdiagnose, die er kurz zuvor erhalten hatte, und mit den Behandlungszyklen klarzukommen.

Er war in Gütersloh aufgewachsen und hätte eigentlich gleich aufs Gymnasium gehört. Das bescheinigten ihm seine Lehrer. Aber der Vater, der selbst nicht hatte studieren können, obwohl er das Zeug dazu gehabt hätte, war dagegen. Thomas holte sein Abitur am Berlin-Kolleg nach. Nach dem Studium von Mathematik und Sozialwissenschaft wurde er Lehrer. Engagiert und tolerant – und manchmal auch verbissen, wenn es um seine Grundsätze ging. Auf antisemitische Anspielungen etwa reagierte er heftig. Die Lehren aus der Geschichte sind im Alltag zu ziehen, wann sonst? Da konnte er ins Dozieren geraten, was manche ermüdend fanden.

Aber bei Worten beließ er es nicht. Als der Flüchtlingsstrom für die meisten mit den „Tagesthemen“ endete und sich schlimmstenfalls in ihren Angstträumen fortsetzte, machte er sich mit Flüchtlingen in der Turnhalle um die Ecke bekannt. Eine Familie aus Afghanistan begleitete er auf Behördengängen, er erzählte vom Leben in Deutschland, lud sie zum Essen ein. Und wurde eingeladen, bei sich selbst zu Hause. Einmal in der Woche kochten die Afghanen bei Thomas und seiner Frau Christa und waren froh, an diesem Tag der Turnhallenverköstigung zu entgehen. Sie erzählten vom Leben in ihrer Heimat und von der lebensgefährlichen Flucht.

Bei seiner Beerdigung waren alle da, die Mitstreiter vom Wrangelkiez, Flüchtlinge aus der Turnhalle, türkische Gewerbetreibende, Lehrer und Schüler aus seiner Schule in Köpenick. Danach traf man sich zum Grillen im Hinterhof, Urkreuzberger sprachen mit Neuzugezogenen, Schüler aus Köpenick mit Jugendlichen vom Görli, Flüchtlinge und Studenten tauschten sich über ihre Strategien bei der Wohnungssuche aus. Alles so, wie Thomas es gemocht hätte.

Jörg Machel

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