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Berlin: Tiefer Friede auf den Straßen

DREI TAGE VOR DEM 1. MAI: DIE POLIZEI UND DER BEZIRK KREUZBERG BEREITEN SICH VOR Von Christian van lessen Peter Jordan hat wieder dieses ungute Gefühl in der Magengegend.

DREI TAGE VOR DEM 1. MAI: DIE POLIZEI UND DER BEZIRK KREUZBERG BEREITEN SICH VOR

Von Christian van lessen

Peter Jordan hat wieder dieses ungute Gefühl in der Magengegend. Letztes Jahr war vor seiner Haustür was los: Steine flogen, Autos brannten, Menschen brüllten, eine schwarze Qualmwolke zog über den Mariannenplatz. Dazu wurden krachend Leuchtraketen gezündet, zwischendrin wüteten die Wasserwerfer der Polizei. Da hatte Peter Jordan schon die Rolläden heruntergezogen, die Tür dichtgemacht. Seine Gäste rückten bei Molle und Korn zusammen und verließen irgendwann durch den Hintereingang die Eckkneipe. Es war kein schöner Abend am letzten 1. Mai.

Das ist es, was Scharen von Presseleuten hören wollen, die vor dem magischen Mittwoch durch bestimmte Ecken Kreuzbergs ziehen. Sie versuchen, das Außergewöhnliche zu spüren, aus Bewohnern und Geschäftsleuten Angst oder wilde Entschlossenheit herauszuhören, möglichst schon auf eine Horde Autonomer zu stoßen, die in irgendeinem Hinterhof oder Kellerverschlag Straßenkampf üben oder in einem der Straßencafés über Schlachtplänen brüten. Schon werden verstohlen die besten Kamerapositionen ausgesucht, schon hoffen Berichterstatter beim Gang über den „Kotti“, den Mariannen-, Oranien- oder Heinrichplatz in bestimmten Gesichtern, die nicht eben brav wirken, hämische Vorfreude auf den ersten Maitag zu erkennen. Wenn dann noch ein Polizeiwagen vorbeikommt, könnte dies als Vorbote hoher Alarmbereitschaft gewertet werden.

Aber es ist alles ganz anders in dem Viertel, das wieder einmal als sicherer Kandidat für die großen Mai-Krawalle gehandelt wird. Es herrscht tiefer Friede auf den Straßen, türkische Hochzeitswagen werden geschmückt, in den Trödelläden und Straßenlokalen mit n wie Eichhörnchen oder Café Jenseits wird gescherzt, gehandelt und gebandelt, und der 1. Mai ist kein Thema.

„Der Kampf um den Mariannenplatz“ lautete am 2. Mai 2001 eine Schlagzeile, und etliche Spuren dieses Kampfes, der von hier ausging und sich wie ein Tintenklecks bis zum Landwehrkanal ausbreitete, sind bis heute nicht getilgt. Hier eine kaputte Straßenuhr, dort verbogene Jalousien, ein schiefes Straßenschild, diverse Schäden an Geschäften. Das ungute Gefühl haben viele, die hier wohnen, doch das jährliche Ritual, das hin und wieder von Großeinsätzen in Prenzlauer Berg unterbrochen wird, hat zu einer traurigen Gelassenheit geführt. Einige Kreuzberger wissen auch schon, wo diesmal was passiert. „Am Heinrichplatz knallt’s“, sagt ein Ladenbesitzer, das hätten er und andere aus der Szene gehört. Sie seien sogar schon vorgewarnt worden, aber wirklich sicher wisse man natürlich nichts. Und das nervt natürlich auch. Also müssen wieder einmal die Jalousien oder Gitter heruntergezogen werden, und wieder einmal muss man zittern, wie der Abend des 1. Mai verläuft, denn abends geht es immer los. Andererseits: Früher, in den siebziger Jahren, hat es hier wöchentlich Demos mit roten Fahnen gegeben, gegen Vietnam und später für Hausbesetzungen. Jetzt geht es nur um den gewohnten Krawall, aber wenigstens nur einmal im Jahr.

Eine ältere Frau, die in der Admiralstraße wohnt, erzählt, dass sie es macht „wie alle hier“. Und das bedeutet: Ins Grüne fahren, der eigenen Wohnung möglichst lange fern bleiben oder den ganzen Tag nicht das Haus verlassen. Ein türkischer Vater sagt, dass er am 1. Mai nicht auf die Straße geht, weil er um den Sohn fürchtet, dass viele Familien ihre Kinder nicht herauslassen. Ihn ärgert es, Angst haben zu müssen, weil er lieber draußen für die Rechte der Arbeiter demonstriert hätte. Und ihn ärgert auch, dass er wieder einmal sein Auto irgendwo weit weg abstellen muss, wie es viele tun. Das Autohaus an der Skalitzer Straße wird die Fahrzeuge, die auf dem Hof geparkt sind, in Sicherheit bringen. Auch das hat schon Tradition.

Rote Fahnen sind gegenwärtig nur auf dem Oranienplatz zu sehen, wo gegen die israelische Politik protestiert wird. Eine junge Frau, die an der Skalitzer Straße vom Einkaufen kommt, sagt deutlich, dass sie Angst vor dem 1. Mai hat: „Mein Mann ist Jude.“

Peter Jordan wird sein Lokal öffnen. Wenn’s dick kommt – aber das muss es ja nicht –, zieht er eben die Rolläden herunter. Und die Gäste werden dann auch wieder zusammenrücken – und sich wie auf einer Insel fühlen.

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