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Biologe Carsten Kallasch sucht in einem Bunkerloch bei Erkner nach Spuren von Fledermäusen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Tierschutz auf Berliner Baustellen: Wer die Fledermaus stört

Unken, Nattern, Molche: Häufig kommen Stadtplanern Tiere in die Quere. Wie Berliner Biologen versuchen, zwischen Artenschutz und Bau zu vermitteln.

Das kleine Loch im Waldboden könnte man glatt übersehen. Farne wuchern über die Ränder, der Trampelpfad führt in sicherer Entfernung vorbei. Carsten Kallasch aber läuft zielstrebig darauf zu. Der unumstrittene Fledermaus-Experte Berlins – ein blasser Mann mit dünner Haut, durch die man die Adern schimmern sieht – weiß, wo die Tiere sich wohlfühlen. Er beugt sich über die zeitschriftengroße Öffnung und leuchtet mit einer extrastarken Taschenlampe hinein. Im Lichtkegel tauchen vermoderte Blätter auf, Plastikverpackungen, zerbrochene Glasflaschen. Das Loch ist der Lüftungsschacht und der einzige Eingang eines verschütteten Bunkers, eine Tür existiert nicht mehr. Kallasch kniet sich auf den Boden, um noch besser hinunterschauen zu können. Der Mittvierziger fahndet gerade im Auftrag einer Baufirma nach Fledermäusen. Hier, in einem Wäldchen in Erkner, soll ein Neubauviertel entstehen, und Fledermäuse könnten für Probleme beim Bau sorgen – so wie gerade in Berlin beim geplanten Einheitsdenkmal.

Doch es ist keine Spur der Tiere zu sehen: keine Exkremente, keine Überbleibsel eines Nests, kein Kadaver. Auch kein Flattern ist zu hören. Kallasch richtet sich auf. Fledermäuse hat er nicht gefunden, sein Auftraggeber hat trotzdem ein Problem.

Schon im Spätsommer suchen die Tiere ein Winterquartier

„Selbst wenn hier noch nie Tiere gewohnt haben – diesen August könnten welche kommen“, sagt Kallasch. Im August machen sich die Berliner Fledermäuse schon auf die Suche nach einer Bleibe für den Winterschlaf. „Die Tiere könnten im Herbst, wenn hier die Bauarbeiten beginnen, verletzt oder getötet werden, in jedem Fall würden sie gestört.“ Er macht eine Pause. „Dieses Gewölbe muss noch vor August zerstört werden, damit sich hier kein Tier einquartiert. Und wir müssen ein Ersatzquartier schaffen.“

Die Baufirma hat Kallasch nicht aus Tierliebe auf das Gelände geschickt. Sondern weil es teuer werden kann, wenn geschützte Tierarten wie Fledermäuse zu spät auf einem Baugrund entdeckt werden. Würden tatsächlich im August Fledermäuse ihr Winterquartier in dem Gewölbe einrichten, könnten die Bagger erst im nächsten Frühjahr anrücken. Dann, wenn die Tiere aus dem Winterschlaf erwacht sind. Eine enorme Verzögerung. So etwas kostet. Je größer das Bauvorhaben desto mehr.

Nicht nur Dresden: Das Tiere Bauvorhaben verzögern ist keine Seltenheit

Tatsächlich passiert es immer wieder, dass Tiere auf Baustellen zum Problem werden. Gerade verzögert sich zum Beispiel in Berlin der Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals am Schlossplatz, weil in einem Gewölbe darunter Fledermäuse ihre Jungen aufziehen. In Bergedorf bei Hamburg kann ein Logistikzentrum nicht gebaut werden, bis eine Kolonie der Zierlichen Tellerschnecke erfolgreich umgesiedelt ist. Vor sieben Jahren stand der Bau der Waldschlösschenbrücke in Dresden auf der Kippe, weil auf der Baustelle eine Kolonie der Fledermausart Kleine Hufeisennase lebte. Kammmolche verteuerten in Hessen den Ausbau der Autobahn 44 um 50 Millionen, der braune Wachtelkönig zog den Bau einer Neubausiedlung in Hamburg in die Länge. Die Deutsche Bahn musste eine ICE-Strecke durch das Havelländische Luch wegen einer Großtrappen-Siedlung umplanen.

Notwendig macht das die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die die EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 1992 verabschiedeten, um den Schutz der biologischen Vielfalt zu garantieren, zu dem man sich auf dem Weltgipfel von Rio de Janeiro verpflichtet hatte. Im Anhang IV der Richtlinie sind 133 besonders schützenswerte Tierarten aufgelistet. Dort heißt es auch, dass die Lebensstätten dieser geschützten Tiere nicht beschädigt oder zerstört werden dürfen. Seitdem ist der Artenschutz auch Thema auf Baustellen. Wenn ein geschütztes Tier dort lebt, wo gebaut werden soll, muss die Baufirma die Pläne anpassen, das Tier umsiedeln, Ersatzquartiere schaffen.

Berliner Bauherren fürchten die Gelbbauchunke

Mittlerweile wurden weitere Gesetze zum Artenschutz erlassen, noch mehr schützenswerte Tiere kamen hinzu. In Deutschland haben die meisten Bundesländer neben dem Anhang IV der EU-Richtlinie zum Beispiel eine eigene Rote Liste mit geschützten Arten, auch Berlin. Bauherren fürchten seitdem die Gelbbauchunke, die Würfelnatter und die Zauneidechse, die meisten einheimischen Vögel. Außerdem alle Fledermausarten.

Carsten Kallasch entdeckte seine Zuneigung zu den lichtscheuen Tieren, als er studierte. In den späten 1980er Jahren lernte er einen alten Biologen kennen, damals der große Fledermausexperte von Berlin. Der Mann erklärte ihm, dass manche Fledermaus bis zu 6000 Mücken pro Nacht vertilgen kann, dass die Tiere in manchen Regionen für das Ökosystem fast so wichtig sind wie Bienen. Kallasch war fasziniert.

Seit einem Vierteljahrhundert widmet er einen Großteil seines Lebens den Berliner Fledermäusen. Er kennt jedes Winterquartier, jede Brutstätte. Er erklärt Schülern, wie wichtig Fledermäuse für unser Ökosystem sind, und ruft die Berliner auf, verletzte Tiere zu ihm zu bringen. Die Kranken pflegt er dann so lange bei sich zu Hause, bis sie wieder fliegen können. Eine Fledermaus, deren Flügel nicht mehr zu retten war, lebt seit Jahren mit ihm zusammen, er hat sie Balduin genannt. Trotzdem sieht sich Kallasch vor allem als Mediator zwischen Tieren und Baufirmen, nicht als Anwalt der Tiere. Er sagt, „wenn ich für Baufirmen arbeite, ist es meine Aufgabe, Konflikte zu verhindern.“

Nager als Jobkiller: Ende der 1990er Jahre tobte der Hamster-Krieg

Sechs Jahre nach Inkrafttreten der Flora-und-Fauna-Habitat-Richtlinie, im Jahr 1998, gerieten Baufirma und Tiere das erste Mal aneinander. Der Bau eines riesigen Industriegebiets in Nordrhein-Westfalen wurde gestoppt – der sogenannte Hamster-Krieg brach aus.

Damals kannte kaum ein Bauherr die Richtlinie. Auch die deutschen Naturschutzbehörden sahen es nicht als ihre Aufgabe an, europäisches Recht auf deutschen Baustellen umzusetzen. Ein paar Naturschützer, die das Industriegebiet verhindern wollten, wussten allerdings Bescheid. Sie machten sich auf die Suche nach geschützten Arten auf der Baustelle, fanden Feldhamsterbauten und informierten die EU-Kommission. Diese leitete 1999 ein Verfahren gegen Deutschland ein, die zuständige Naturschutzbehörde verhängte einen Baustopp, die Baufirma zog vor Gericht. Ein von ihr beauftragter Biologe erklärte, die Feldhamsterbauten seien in Wirklichkeit Messlattenlöcher. Es wurde über Beweise diskutiert, über Ausgleichsflächen verhandelt, über Verhältnismäßigkeit gestritten. Der Feldhamster war plötzlich Gegner von 12 000 Arbeitsplätzen.

Die Aufhebung des Baustopps kam zu spät

Die EU-Kommission stoppte das Verfahren gegen Deutschland erst, als die Naturschutzbehörde des Landes die Baufirma verpflichtete, ein Schutzkonzept für den Hamster zu entwickeln. Im Jahr 2000 wurde der Baustopp aufgehoben, unter Auflagen. Da hatten sich allerdings die meisten Firmen schon aus dem Projekt zurückgezogen.

Seitdem beauftragen Bauherren meist lange vor einem Bauvorhaben einen Biologen, um herauszufinden, ob es Probleme mit geschützten Tieren geben könnte. Seither gilt auch: Liegt ein Schutzkonzept vor, darf trotz der Existenz des geschützten Tieres gebaut werden. Dafür muss der Biologe zunächst das Gelände kartieren, also auf einem Grundriss einzeichnen, wo Brutstätten und Winterquartiere liegen. Er muss genau hinsehen, die Tiere können sich auch hinter dem Putz einer Fassade verstecken oder im Dämmmaterial nisten. Anschließend müssen Brutstätten und Quartiere zerstört werden – natürlich nur, wenn die Tiere gerade nicht nisten oder Winterschlaf halten –, damit kein Tier während der Bauarbeiten zurückkehrt.

Immer weniger: Die Zahl der Fledermäuse in Berlin sinkt

Vor dem Loch im Waldboden bei Erkner überlegt Carsten Kallasch gerade, wie viele Ersatzquartiere die Baufirma für das unterirdische Gewölbe schaffen muss. Der Bunker ist kein ideales Versteck, es gibt keine Nischen, keine Spalten, womöglich ist der Raum nicht mal frostfest. Höchstens 50 Tiere könnten dort überwintern, schätzt er. Dann macht er sich auf den Weg zum Wasserwerk in Friedrichshagen, ein paar Kilometer stadteinwärts. Die Wasserwerke stellen unterirdische Wasserspeicher als Fledermausquartiere zur Verfügung.

Derzeit gibt es 40 Winterquartiere für Fledermäuse

Kallasch plant, unter dem Wasserwerk in Friedrichshagen eines der größten Winterquartiere für Fledermäuse zu schaffen. Derzeit gibt es etwa 40 Quartiere in Berlin, dort leben so viele Fledermäuse wie in keiner anderen mitteleuropäischen Stadt. „Vor 40 Jahren war die Population aber noch zehnmal so groß wie heute“, sagt Kallasch.

Dann steigt er in den Wasserspeicher hinab, mit einem zufriedenen Lächeln. Das Quartier wächst. Derzeit überwintern hier etwa 100 Tiere. Verstecke für weitere 50 Fledermäuse wird er im Juni anbringen, bezahlt von der Baufirma. Unten ist es stockdunkel, feucht und kühl. Fledermaus-Wohlfühl-Ambiente. Kallasch lässt den Kegel seiner Taschenlampe über die Wände gleiten. Immer wieder sind große Bausteine zu sehen. Es sind Verstecksteine, Wohnungen für je zehn Fledermäuse. Kallasch hat sie mit einer Firma entwickelt, die eigentlich Vogelnester herstellt. Vor einer leeren Wand bleibt er stehen. „Hier ist ein guter Ort für die neuen Steine.“

Etwa 20 Biologen arbeiten auf Berliner Baustellen

Gerade betreut Kallasch knapp 20 Bauvorhaben. Etwa 20 Biologen arbeiten wie er in Berlin. Sie scheinen einen guten Job zu machen. In den Berliner Naturschutzbehörden jedenfalls kann sich niemand daran erinnern, wann zuletzt wegen einer geschützten Tierart ein Baustopp verhängt wurde. „Die meisten Baufirmen haben seit Ende der 1990er verstanden, dass auch der Hausspatz eine schützenswerte Art ist“, erklärt Johannes Schwarz. Er erteilt in der Oberen Naturschutzbehörde des Landes Berlin Sondergenehmigungen an die Bauherren – und verhängt gegebenenfalls einen Baustopp. Es gibt kaum einen Bauherren, der keinen Biologen beauftragt. Die Firmen fürchten, dass Anwohner, die der Baulärm stört, sie bei der Naturschutzbehörde verpfeifen könnten. Vor zehn Jahren ist das häufig passiert. Wer Tiere auf einer Baustelle sehen will, der findet sie auch. „Trotz aller Voraussicht und Umsicht kann es aber schon mal vorkommen, dass sich ein Bauvorhaben wegen Tieren verzögert“, sagt Schwarz. „Dann ist meistens etwas im geplanten Bauablauf durcheinandergekommen.“

So wie gerade auf der Baustelle des Einheitsdenkmals. Carsten Kallasch kennt die Tiere in dem Gewölbe unter dem Schlossplatz seit mehr als zehn Jahren. Es sind Waldfledermäuse, die eigentlich in Baumhöhlen leben. Jene Tiere aber verhalten sich wie Wasserfledermäuse: Sie hausen nah am Wasser und jagen dort Insekten. Kallasch begleitet den Bau des Einheitsdenkmals seit der Planungsphase. Er hat mit den Projektplanern einen Zeitplan erstellt, abgestimmt auf Brutzeiten und Winterschlaf.

„Nicht immer kann ich den Konflikt vermeiden. Manchmal liegt das an den Tieren. Sie sind eigensinnig und verhalten sich nicht immer so, wie wir Menschen es erwarten“, sagt er. Meist seien aber die Menschen schuld, wenn es Probleme gibt. „Denn die halten sich öfter mal nicht an den Zeitplan der Tiere.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

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