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Sven Loose neben dem "Tilsomat", einem alten Süßigkeitenautomaten.

© Madlen Haarbach

Tilsiter Ladenkino: 111 Jahre Lichtspiel in Friedrichshain

Dieses Jahr feiern die Lichtspiele ihren 111. Jahrestag. Wie überlebt ein kleines Ladenkino in Friedrichshain zwischen Netflix und Multiplex-Häusern?

Friedrichshain, Anfang des 20. Jahrhunderts: In dem Arbeiterbezirk boomen die Lichtspielheater, über 30 Kinos öffnen innerhalb weniger Jahre. Die Säle befinden sich in den Erdgeschossen der Mietskasernen. Sie sind klein, eng und dunkel – wie auch die Wohnungen am damaligen Stadtrand Berlins. Für wenige Pfennige katapultieren die Kinos die Arbeiter der umliegenden Fabriken hinein in eine andere Welt, in US-amerikanische Gangsterfilme, historische Epen und futuristische Produktionen.

Wie eine andere Welt wirkt Friedrichshain auch heute, rund 100 Jahre später. Die ehemaligen Arbeiterwohnungen haben sanierte Fassaden, in den Erdgeschossen finden sich schicke Cafés, Biomärkte und Kneipen.

In der Richard-Sorge-Straße 25a, einem unsanierten Altbau inmitten polierter Häuserfronten, blitzt noch ein Stück Vergangenheit hervor. Hier, damals noch in der Tilsiter Straße, wurden 1908 die Tilsiter Lichtspiele gegründet. Neben dem „Intimes“ in der Boxhagener Straße sind die Tilsiter das einzige erhaltene Ladenkino Friedrichshains. In diesem Jahr feiern sie ihren 111. Jahrestag – und den 25. Geburtstag seit ihrer Wiedereröffnung.

„Alles soll so aussehen, als wäre es schon immer so gewesen“

Wer durch die Tür in die Lichtspiele tritt, blickt als erstes auf den „Tilsomat“ an der rechten Wand: Eine Art vollmanueller Versorgungsapparat aus den 1960er Jahren, eine Art Vorgänger des heutigen Süßigkeitenautomaten. In der angeschlossenen Kneipe wellt sich die Retrotapete, milchige Wandlampen verbreiten schummeriges Licht, dunkle Holztische stehen unter Filmplakaten. Im größeren der beiden Kinosäle stehen zwischen den Reihen ausgeblichener, grüner Kinosessel zwei braune Ledersofas. Wohnzimmeratmosphäre auf 66 Plätzen.

Tilsiter-Programmdirektor Sven Loose.
Tilsiter-Programmdirektor Sven Loose.

© Madlen Haarbach

„Alles soll so aussehen, als wäre es schon immer so gewesen“, sagt Programmdirektor Sven Loose. Mit grauer Filzjacke, eckiger Brille und akkurat geknotetem roten Schal wirkt auch er etwas aus der Zeit gefallen.

Die Tilsiter Lichtspiele entführen nicht nur das Publikum in fremde Kinowelten, sondern stricken ständig an ihrer eigenen Erzählung. Dabei helfen unzählige historische Referenzen: Da ist die ehemalige Kinokassiererin, die zur Wiedereröffnung immer noch im Haus gegenüber wohnte und alte Fotos aus ihrem Archiv kramte.

Oder die Geschichte rund um den Friedrichshainer Al Capone, Werner Gladow: Einem jungen Kleinkriminellen, der in den 40er Jahren amerikanische Gangsterfilme imitierte und dann mit 19 hingerichtet wurde. Welche Kinos Gladow damals besuchte, ist unklar – doch vielleicht waren ja auch die Tilsiter darunter. Und auch der Name bietet Referenzen: Neben dem Käse etwa zur gleichnamigen ostpreußischen Stadt und dem deutschen Spielfilm „Die Reise nach Tilsit“ von 1939.

Kurz vor dem Mauerbau gab das Kino seine vorerst letzte Vorstellung

Original erhalten ist in den Lichtspielen heute nichts mehr. Die Einrichtung ist zusammengestückelt, stammt aus stillgelegten Kinos und Betrieben. Nach der Eröffnung 1908 zeigten die Lichtspiele 53 Jahre lang Filmtheater, dann war erst einmal Schluss.

1961, kurz vor dem Mauerbau, gab das Kino seine vorerst letzte Vorstellung. „Über die Gründe kann man nur spekulieren“, sagt Loose. Zum einen sei die Situation für private Kinobetreiber – wie auch für alle anderen Privateigentümer – zu DDR-Zeiten sicherlich nicht einfach gewesen. Andererseits eröffnete 1962 in unmittelbarer Nachbarschaft das „Kosmos“: Mit damals rund 1000 Sitzplätzen eines der größten Kinos der Stadt.

31 Jahre lang wurde das ehemalige Kino in der mittlerweile umbenannten Straße als Lager genutzt – bis eine Gruppe junger Künstler es zur Wendezeit wiederentdeckte. Die Gruppe, zu der etwa auch der spätere Rammstein-Keyboarder Flake gehörte, nutzte die Räume als Atelier und Treffpunkt.

„Irgendwann haben die sich gesagt: Wir machen hier Kunst, wir verwirklichen uns selber, wir feiern – warum nicht ein Kino plus Kneipe eröffnen?“, sagt Loose. Der alte Name musste bleiben - als wären die Lichtspiele niemals weg gewesen. Loose stieß kurz nach der Wiedereröffnung 1994 zu dem Kollektiv, das auch das Kino zunächst eher als private Spielwiese nutzte. „Filmedrehen und Filme zeigen am selben Ort, das war ja praktisch“, sagt Loose. Kurz zuvor hatte die Gruppe etwa den Film „Die Wahrheit über die Stasi“ gefilmt, bis heute der größte Eigenerfolg der Tilsiter Lichtspiele.

Historische Aufnahme des Kinos.
Historische Aufnahme des Kinos.

© Tilsiter Lichtspiele

Gedreht wird heute nicht mehr, der ehemalige Schnittraum ist längst ein zweiter Kinosaal. Wer ihn betreten will, muss durch das Vorderhaus des Altbaus. Frische Markierungen an der Decke deuten an, dass es auch hier mit der Vergangenheit schon bald vorbei sein könnte.

Auch filmisch schauen die Lichtspiele in die Zukunft

Vielleicht ist auch das der Grund, dass das Kollektiv vor einigen Jahren nach einem zweiten Ort für ein Kino mit Kulturbetrieb suchte – und es „Zukunft“ nannte. Seit 2011 bilden die Zukunft am Ostkreuz und das angeschlossene Freiluftkino Pompeji gemeinsam mit den Tilsiter Lichtspielen eine „Troika“. Dabei hat auch die „Zukunft“ eine geschichtsträchtige Vergangenheit: Hier befand sich über Jahrzehnte das zentrale Filmlager der DDR.

Auch filmisch schauen die Lichtspiele in die Zukunft: Neben klassischem Arthouse, Dokumentarfilmen und einzelnen Mainstream-Produktionen hat sich das Kino auch dem Filmstandort Berlin verpflichtet. In Kooperation mit Festivals wie dem „Achtung Berlin“ laufen hier viele Independent-Filme junger Berliner Filmemacher, die es sonst kaum in den Verleih schaffen.  

Über mehrere Jahre lagen die Tilsiter Lichtspiele direkt in der Mitte zwischen dem Multiplexkinos UCI Landsberger Allee und Kosmos. Beide sind mittlerweile geschlossen, die Tilsiter Lichtspiele gibt es immer noch. Wie überlebt ein Ladenkino zwischen Großkinos? Einerseits haben die Lichtspiele geringere Kosten bei Personal und Miete. Vielleicht erzählen sie aber auch einfach die besseren Geschichten.

„Ich glaube, Berlin ist ein Sondermarkt: Hier laufen Programmkinos einfach super“, sagt Loose. „Unsere Bedrohung sind weder Netflix noch die großen Kinoketten oder ein zu heißer Sommer – aber es gibt eine konkrete Gefahr, die immer immanent ist: Der spekulative Immobilienmarkt“, sagt Loose.

2008 stand das Kino wegen einer angekündigten Verdreifachung der Miete schon einmal auf der Kippe. Damals lenkte der Vermieter nach öffentlichem Druck ein. Mittlerweile hat das Haus einen neuen Eigentümer, die Folgen für das Kino sind noch ungewiss.

Was ist eigentlich damals aus der Originaleinrichtung des Kinos geworden? Man erzähle sich, dass ein filmbegeisterter sowjetischer Offizier das technische Equipment mit nach - wohin sonst? - Tilsit genommen habe. „Keine Ahnung ob die Story stimmt“, sagt Loose mit einem Grinsen. „Aber ist halt eine gute Geschichte.“ 

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