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Berlin: Tobias Schmidt (Geb. 1964)

Worüber man beim Anblick eines Zebrastreifens sprechen kann

Egal welche Musik, Hauptsache tanzbar und viel Publikum drum herum – dafür waren die Volksfeste gut, Deutsch-Französisch, Deutsch-Amerikanisch, Weihnachten. Achterbahnen und Riesenräder ließ Tobias links liegen, er suchte die lauteste Kirmesbude und ließ es rocken und rollen. In seinen Bewegungen fand er weder Maß noch Mitte, Travolta, Elvis, Mick Jagger, er imitierte sie alle zugleich, unglaublich musikalisch, versunken, raumgreifend. Die Vorstadtjungs grinsten erst spöttisch, dann verlegener, schließlich gefror ihre Coolness vor Eifersucht. Denn die Vorstadtmädels hatten nur noch Augen für den wilden Tänzer.

Vielleicht hatte ihm seine Mutter die Lust an der mitreißenden Verausgabung mitgegeben. Allzu viel ist über sie nicht bekannt, sie starb Mitte der achtziger Jahre. Sie soll oft mit ihm ins Theater gegangen sein. Die Welt der Tiere hat sie ihm jedenfalls nahegebracht, je exotischer, desto besser. Bis zuletzt waren regelmäßige Besuche im Tierpark Friedrichsfelde Pflichtprogramm. Er hatte ein notorisch schlechtes Gedächtnis, aber im Tierpark kannte er jedes Vieh beim Gattungsnamen, manche sogar auf Latein. Wenn ihm ein Name doch mal entfallen war, dachte er sich einen aus, nannte ihn mit umso ernsterer Mine, um dann in ein Gelächter zu fallen, das an eine kläffende Töle erinnerte. Tobias war gerne lustig, vermutlich sogar ironiebegabt, aber bei Menschen mit Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt, weiß man das nicht so genau.

Er konnte nicht allein leben und sich selbst versorgen. Nach schlimmen Jahren in einem Berliner Heim kam er Mitte der Neunziger in den Malteserhof der Caritas in Reinickendorf. Die Bewohner leben dort in familiären Wohngemeinschaften. Tobias arbeitete in einer Werkstatt für Behinderte, meist gern, nur nicht am Montagmorgen. Kollegen, Betreuer und Mitbewohner beschreiben ihn als Nervensäge. Oft verlangte er ihnen das Letzte an Geduld und Empathie ab, um dann wieder einen Charme zu entfalten, der jedes Gezänk vergessen ließ. Sich mit ihm zu verständigen war leicht, die Unterhaltung über ein konkretes Thema faserte aber irgendwann aus. So war ein Zebrastreifen mehr als nur ein Fußgängerüberweg, er löste wilde Assoziationen über Tiere aus, die leichte Beute waren für die Löwen in Afrika. So was habe er erst neulich „auf einer Safari in der Saraha“ selbst erlebt. Und ob man mal eine Zigarette übrig hat?

Demenz wirkt sich bei Menschen mit Down-Syndrom heftiger aus. Vor einigen Monaten vergaß Tobias, dass er starker Raucher war. Auf Besucher und Betreuer reagierte er abwesend, die Namen vergaß er. Sein Gang wurde ängstlich, er traute sich nicht mehr, Treppen zu benutzen. Es gab keine Spaziergänge mehr und schon gar keine wilden Tänze. Im Februar ist er gestorben.

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