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Berlin: Tod eines Reisenden

17 Jahre lang betrieb Christina Schien eine kleine Kneipe am Treptower Park – bis die Bahn ihr kündigte. Heute steht der Laden leer.

Am Abend, als der Bote kommt, steht Christina Schien am Tresen in ihrer Kneipe. Wo auch sonst? Es ist der 30. September 2009, gegen 19 Uhr. Ein Mittwoch. Hugo der Reisende, ein gemütliches Altberliner Lokal unten im S-Bahnhof Treptower Park, hat an diesem Abend nur ein paar Stammkunden zu Gast. Kneipen sind am Monatsende selten voll.

Als Christina Schien mit hastiger Hand den Umschlag öffnet, fällt ihr Blick gleich auf die fettgedruckte Betreffzeile: Fristgerechte Kündigung. Nach 17 Jahren beendet die Deutsche Bahn die Mietbeziehung in Maschinenschrift: „Bitte vereinbaren Sie einen Termin für die Rückgabe des Mietgegenstandes innerhalb der vorgenannten Räumungsfrist.“

Dreieinhalb Jahre später sitzt Christina Schien, 61 Jahre, kurze weiße Haare, am Esstisch ihrer Wohnung am Platz der Vereinten Nationen. Schiens Zuhause liegt hoch über dem Friedrichshain, niedrige Decke, alte Platte. Ihr Blick geht zum grau gewaschenen Horizont. Doch in Wirklichkeit ist sie jetzt wieder in ihrem Lokal, Brief in der Hand. „Sie stehen da“, sagt sie, „und verstehen die Welt nicht.“ Sie sei gerade fertig gewesen mit allem, „der Laden stand so, wie ich ihn haben wollte.“

Der Hugo, sie nennt ihre Kneipe immer noch wie einen verlorenen Sohn, ist mehr als ein Job, er ist ihr Lebensinhalt gewesen, von 1992 an, als sie das Objekt mit Blick auf den grünen Treptower Park von der Mitropa übernahm. Eifrige Nachwendejahre, Zeit des Aufbruchs. Auch für Schien, die Pfarrerstochter, geboren in Schöneweide, aufgewachsen in der Nähe von Schwedt, mit 19 zurückgekehrt.

Sie trinkt den starken Kaffee in kleinen Schlucken. Anfang 40 ist sie, als sie die Kneipe übernimmt, die Kinder aus dem Haus, eine neue Aufgabe. Stück für Stück renoviert sie, zusammen mit ihrem Mann, Touristenschiffer bei der Kreis und Stern. Reißt die alten Pissrinnen heraus, verlegt Fliesen, verputzt und malert. Noch im Herbst 2004 erneuert sie die komplette Elektrik, rund 10 000 Euro Materialkosten, plus ein Vierteljahr Einbauzeit. Die schönsten Impressionen aus den Geburtsjahren des Hugo hebt sie bis heute sorgsam in einem gebundenen Fotoalbum auf. Ein Familienalbum.

An die Bahn überweist sie Monat für Monat ihre Miete, ansonsten macht sie ihr Ding, wie schon zu DDR-Zeiten, als sie bereits eine „freie Kneipe“ betrieben hat, bloß weit weg vom ungeliebten System.

Ab 2002 läuft Hugo der Reisende, benannt nach der Figur mit Koffer direkt am Eingang, nur noch als Saisongaststätte, von Anfang April bis Ende Oktober. Eine Entlastung, die kalten Winter mit kaum Gästen sind vorbei. In den warmen Monaten, der Park übervoll, läuft das Geschäft dagegen gut, in der Kneipe und dem Imbiss nebenan. Der Hugo gehört zum Park wie das Hafenfest oder das Public Viewing während der Fußball-WM 2006, das mehr Leute denn je vor die Türen spült.

Die Elektrik neu, der Hugo rentiert sich, eigentlich ist nun alles perfekt. Bis zu dem Tag kurz vor Saisonende 2009, dem Tag, an dem der Bote kommt.

Einen Kündigungsgrund findet Christina Schien nicht in dem Schreiben. Sie kennt ihn bis heute nicht. „Ich wurde immer abgebügelt“, sagt sie. „Am Telefon habe ich geweint, gedroht, eine Mischung von beidem.“ Sie kann nichts machen: Die Kündigung ist fristgerecht, rechtlich einwandfrei. Antworten, warum ihre Kneipe nicht mehr erwünscht ist, bekommt sie nicht. Stattdessen werden Interessenten durch die Räumlichkeiten geführt. Dass ihre Kneipe neu ausgeschrieben ist, erfährt Schien beiläufig.

Die Berliner Pressestelle der Bahn hält sich auf Anfrage im Ungefähren. Es habe „rechtliche Probleme“ gegeben, heißt es. Davon will Schien nichts wissen. Ihre These: Die Bahn habe zu deutlich höheren Konditionen neu vermieten wollen.

Die Bahn bestätigt, dass es damals einen konkreten Interessenten gegeben habe. Ein schönes Konzept habe der vorgelegt, eine Mischung aus Restaurant, Bar, Lounge, richtig schick – Name der neuen Lokalität: Planwirtschaft. Doch dann habe sich herausgestellt, dass das Objekt in schlechterem Zustand sei als angenommen. Schimmel und Wassereinbrüche, man hätte sanieren müssen, das ist bis heute nicht passiert. Für Schien kommt das nicht überraschend. Einsickerndes Wasser von den darüber liegenden Bahngleisen habe es im hinteren Kneipenbereich nach Regenfällen immer gegeben, sagt sie – sie habe dafür einen provisorischen Abfluss gebastelt.

Also steht der Hugo drei Jahre später noch immer leer. „Die Bahn hätte ein Supergeschäft machen können mit mir“, sagt Schien. „Ich habe eine Immobilie bezahlt und betrieben, die sie jetzt nicht mehr vermietet kriegt.“ Die Umstände, das Wortlose, haben Christina Schien tief getroffen – bis heute. Sie ist angespannt, irgendwann tupft sie sich Tränen von der Wange. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich hatte das alles ein bisschen vermauert.“

Ihre persönliche Geschichte hat nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit immerhin eine versöhnliche Richtung eingeschlagen. Sie arbeitet wieder, als Tagesmutter für eine Familie in Prenzlauer Berg. Und hat sich verändert. „Es ist wunderbar, die Langsamkeit zu lernen“, sagt sie. „Früher war ich eine Hektiknudel, immer unter Spannung, nie fertig. Jetzt entdecke ich völlig andere Sichtwinkel.“ Täglich für das zweijährige Kind zu sorgen, erfüllt sie – anders als das die Kneipe je konnte. „Das ist mein fünftes Enkelkind“, sagt Schien und ihre Augen glänzen, vor Freude diesmal. Ihre beiden eigenen Töchter hätten ihr gesagt, sie sei ganz ausgeglichen und ruhig geworden.

Christina Schien stellt ihre Kaffeetasse ab und steht auf. Mit fester Stimme sagt sie: „Heute bin ich so weit, dass ich sage: Danke, liebe Bahn, du hast mich eigentlich befreit. Es tut immer noch weh, aber ich führe jetzt ein anderes Leben.“

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