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Berlin: Tod im Rollstuhl: Ärzte unter Verdacht

Sozialstation wurde nicht über Klinik-Entlassung der 66-Jährigen informiert

Von Sandra Dassler

Zwei Tage, nachdem die 66-jährige Rentnerin Ingrid K. tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die behandelnden Ärzte im Jüdischen Krankenhaus in Wedding aufgenommen. Sie stehen im Verdacht der fahrlässigen Tötung.

Wie berichtet, war die an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium erkrankte Frau am 2. Juli dieses Jahres in das Krankenhaus gebracht worden. Fünf Tage später wurde sie wieder entlassen – ohne dass die Ärzte ihre Angehörigen beziehungsweise den sie betreuenden Pflegedienst informierten. Eine Tochter fand die Verstorbene in ihrem Rollstuhl sitzend, den Telefonhörer in der Hand.

Ob die Frau qualvoll verdurstete, weil sie das Telefon nicht mehr bedienen konnte, wird erst die Obduktion des Leichnams in der nächsten Woche ergeben. „Möglicherweise ist Frau K. auch eines natürlichen Todes gestorben“, sagte gestern ein Polizeisprecher. „Wenn dieser nicht zu verhindern gewesen wäre, würden die Ermittlungen gegebenenfalls eingestellt.“

„Wir sind schockiert und fassungslos“, beschreibt der Sprecher des zuständigen Pflegedienstes, Mario Zeidler, die Verfassung seiner Kollegen: „Zwischen Frau K. und uns bestand seit 1988 ein Betreuungsvertrag. Sie hatte die höchste Pflegestufe III – das heißt, sie konnte sich allein nicht helfen. Das Krankenhaus hätte uns in jedem Fall von ihrer Entlassung informieren müssen, auch weil wir sie viermal am Tag medikamentös behandelt haben.“ Außerdem verstehen die Mitarbeiter von der Volkssolidarität-Sozialstation in Köpenick nicht, warum die Fahrer des Krankentransportes die hilflose Frau allein in der Wohnung zurückließen. „Bei Pflegestufe III muss die kranke Person in Empfang genommen werden“, sagt Zeidler. Uwe Fleischer, Sprecher des Berliner Landesverbandes der privaten Rettungsdienste, widerspricht: „Unsere Kollegen kennen die Pflegestufe oft gar nicht. Aber sie müssen natürlich einschätzen, ob sie Patienten allein zurücklassen können.“

Nach Darstellung des Jüdischen Krankenhauses, hatte Ingrid K. den Krankentransporteuren mitgeteilt, dass gleich der Pflegedienst erscheinen würde. Offenbar war sie davon ausgegangen, dass man ihre Betreuer über die Entlassung informiert hatte – so wie es im Berliner Krankenhausgesetz vorgeschrieben ist. Die Klinik aber hat nur mit der Hausärztin gesprochen. Begründung: „Eine Mitarbeiterin hat die Patientin gefragt, ob Angehörige oder ein Pflegedienst zu benachrichtigen seien“, sagt Kliniksprecher Gerhard Nerlich: „Sie hat das verneint, weil ihre ,Schwester‘ auf sie warte.“ Auch wenn die Mitarbeiterin dabei an eine leibliche Schwester dachte, Ingrid K. aber wahrscheinlich die Schwester vom Pflegedienst meinte, enthebt das die Ärzte nach Ansicht der Ermittler nicht von ihrer Benachrichtigungspflicht. Die Klinik selbst vermag „ein Fehlverhalten unsererseits nicht zu erkennen“.

Erst kürzlich war am Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen einen Krankenhaus-Arzt verschoben worden, der für den Tod einer 95-Jährigen im Jahr 2000 verantwortlich sein soll. Der Fall weist große Ähnlichkeit mit der aktuellen Tragödie auf: Auch damals wurde der Pflegedienst nicht von der Entlassung informiert; auch damals ließen die Krankentransporteure die Frau allein zurück. Und auch damals befand sich der Notfall-Pieper außer Reichweite.

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