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Berlin: Todesstreifen zu Kornfeldern

Mauergedenk-Andacht in der Versöhnungskapelle

Auf die Frage, was eine Andacht zum 45. Jahrestag des Mauerbaus denn von einer politischen Gedenkveranstaltung unterscheidet, nennt Pfarrer Manfred Fischer zwei Dinge: Einmal die Neutralität, denn Parteipolitik spielt in der Kirche bekanntlich keine Rolle, und vor allem die Stille und Andacht in der Versöhnungskapelle. „Deswegen kommen die Politiker auch so gerne zu uns. Sie müssen gar nichts machen und bekommen diese intime Atmosphäre einfach geschenkt. Das klappt aber nur, wenn der liebe Gott es will.“

Heute will er. Die Mauergedenk-Andacht der evangelischen Versöhnungsgemeinde auf dem Mauerstreifengelände in der Bernauer Straße ist alles andere als ein Pflichttermin, auch wenn es am Anfang ganz danach aussieht. Schon eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst sind viele Plätze in dem ovalen Lehmbau besetzt. Die Gemeindeglieder sind offenbar Gedenkprofis und spekulieren munter darüber, wer diesmal die für Politprominenz reservieren Reihen füllt. Der Wowereit hat mich ja mal gegrüßt, meint eine Dame, und die Merkel spricht immer zu leise. Und dann erzählt sie, dass sie nie das Datum 13. August lesen kann, ohne loszuheulen. Und ein Mann, offensichtlich ein Maueropfer, sucht mit den Augen nach Gesprächspartnern und fragt: „Kennen Sie meine Biographie“? Inzwischen sind in der Weddinger Kapelle auch die Stehplätze besetzt, die Sicherheitsleute da und Abgeordnetenhauspräsident Momper, Bürgermeister Wowereit und Innenminister Schäuble haben ihre Plätze eingenommen.

Und dann geschieht das Wunder. Schon nach der schlichten Begrüßung von Pfarrer Manfred Fischer und dem Eingangslied „Befiehl du deine Wege“ sind alles Gemurmel und alle Unruhe, alle Floskeln wie ausgelöscht. Gemeinde, Honoratioren, Zeitzeugen und Zuschauer stimmen kräftig in die Wechselgesänge des Kyrie und Glorias ein. Der schlichte Raum hilft, meint Pfarrer Fischer später, und in der Tat entfalten sich in der auf dem Grundriss der von der DDR gesprengten Versöhnungkirche errichteten Kapelle geborgen im Gottesdienstritual ganz besonders versöhnliche Kräfte.

Der 13. August 1961 war ein Sonntag wie heute, beginnt Manfred Fischer seine Predigt. Die Kirchenglocken riefen die Versöhnunggemeinde damals wie immer zum Gottesdienst, um dann für eine Generation zu schweigen und von Gewaltherrschaft und Kaltem Krieg überwältigt zu werden. Dagegen setzt der Pfarrer einen Satz des Geistlichen Dietrich Bonhoeffer und sagt mit Nachdruck: „Ich glaube, dass Geschichte kein gottloses Schicksal ist. Und dass Gott auf aufrichtige Gebete und verantwortungsvolle Taten wartet und antwortet.“ Der Mauerfall 1989 sei so eine Antwort gewesen, die zugleich die Maueropfer aus ihrer Opferrolle befreit habe. Zum Schluss skizziert Pfarrer Fischer ein Gegenbild zum Kalten Krieg. Vor einem Jahr säte die Gemeinde Korn in der Mauerbrache rund um die Kapelle der Versöhnung aus. Und jetzt steht die Ernte am Altar. Sechs volle Säcke Roggen, bereit, gemahlen und zu Brot verbacken zu werden. „Liebe Gemeinde, das ist Frieden.“

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