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Berlin: Tödliche Tram: Schon das neunte Opfer in Wedding

Wieder starb ein Mann an der einzigen Straßenbahn-Strecke im Westteil der Stadt: Er missachtete die Ampel und überhörte den Zug

Seestraße, Ecke Antwerpener Straße, gegen 18.30 Uhr: Ein 45-Jähriger will die Straßenbahnschienen auf dem breiten Mittelstreifen der Seestraße überqueren. Die Ampel zeigt Rot – er achtet nicht drauf und bemerkt auch den nahenden Zug nicht. Er wird erfasst, 22 Meter mitgeschleift und stirbt noch an der Unfallstelle. Der Mann ist bereits der dritte, der seit 1995 an genau dieser Stelle sein Leben verlor. Und er war schon der neunte Tote auf diesem einzigen Teilstück des Straßenbahnnetzes im früheren West-Berlin: die vergleichsweise kurze Strecke der Linien 23 und 24 über die Bornholmer, Osloer und Seestraße zum Vichow-Klinikum. Acht der Todesopfer waren Fußgänger, und sie alle waren an dem Unfall selbst schuld.

Peter Müller wundert das nicht. „Das liegt an diesen Übergängen“, sagt der Apotheker, der sein Geschäft an der Lüderitzstraße hat und von dort direkt auf die drei aufeinander folgenden Fußgänger-Ampeln blickt, die den Weg zur anderen Seite der Seestraße regeln. Erst kommt eine Fahrspur, dann der Mittelstreifen mit den Straßenbahngleisen, schließlich die andere Fahrspur. Das mittlere Ampelpaar an den Gleisen zeigt nur Rot, wenn sich ein Zug nähert – zur gleichen Zeit kann der Weg über die Fahrspuren mit Grün freigegeben sein. „Häufig achten die Leute nur auf die – grünen – Straßen-Ampeln“, hat Müller beobachtet, „und bemerken das Rot vor der Straßenbahn erst im letzten Moment.“

Hinzu komme, so der Sprecher der zuständigen Polizei-Direktion 1, Dietmar Vetter, dass „die Straßenbahn im Westen offenbar immer noch kein wirklich gewohntes Verkehrsmittel ist“. Die letzte Strecke der „Elektrischen“ im Westteil Berlins wurde bereits 1967 stillgelegt. Und vor allem ältere Leute hätten offenbar Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, dass auf dem Mittelstreifen der Seestraße die Straßenbahn fährt. Auch das Durchschnittsalter der hier tödlich Verunglückten ist relativ hoch. Im Oktober letzten Jahres startete die Direktion 1 daher mit BVG und Verkehrsverwaltung eine „Aufklärungskampagne“ über die Straßenbahn. Flugzettel wurden verteilt, Plakate gehängt, Bürgergespräche geführt – doch kaum war die Aktion vorüber, lief im November der nächste Mann vor die Straßenbahn. Diesmal in der Osloer Straße. Wieder bei Rot, wieder endete es tödlich. Es war ein 44-Jähriger.

Für die Zukunft erwarten Polizei, Verkehrsverwaltung und BVG berlinweit sogar noch mehr Unfälle, an denen eine Straßenbahn beteiligt ist. Sie schließen das aus den Zahlen für das erste Halbjahr 2002 (siehe Grafik). Sorgen machen ihnen vor allem die Unfälle, bei denen ein- oder aussteigende Fahrgäste von Autos erfasst werden – was in den letzten Jahren immer häufiger vorkam. Der „typische“Zusammenstoß ereignet sich nach BVG-Angaben dagegen zwischen abbbiegenden Pkw und Straßenbahnen, die nicht in der Straßenmitte fahren – und übersehen werden. Dazu trägt auch bei, dass die Geschwindigkeit einer herannahenden Straßenbahn von den meisten Menschen unterschätzt wird – von Autofahrern und Fußgängern. Doch während Autofahrer dabei meist nicht so schwerwiegend verletzt werden, gehen Kollisionen von Straßenbahnen mit Fußgängern fast nie glimpflich aus.

Auf der Seestraße verkehren außerdem auf neuen Gleisen überwiegend moderne Bahnen. Deren Annäherung ist vor dem Hintergrund des übrigen Verkehrslärms kaum zu hören. Und es ist eine freie gerade Strecke, die Züge können auf dem Mittelstreifen schneller fahren als im Stadtkern – ähnlich wie in der Allee der Kosmonauten, die bei der BVG ebenfalls als Schwerpunkt schwerer Unfälle mit Fußgängern bekannt ist.

„Man könnte längs der Gleise vielleicht Gitter aufstellen…“, räsonniert Ulrich Mohneke von der BVG. „Aber – die werden doch auch überklettert.“

Holger Wild

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