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Berlin: Tortur im Stufentakt

Die biblischen Qualen der Sieger beim fünften „Tower-Run“ in Neukölln

Ganz weit oben, auf den letzten Höhenmetern der Via Dolorosa, steht Markus Albrecht von der SPD-Fraktion Neukölln. Er hat sich mollig warm in Winterjacke, Mütze und Lederhandschuhe verpackt. Seine Aufgabe ist, mit einer dezenten Handbewegung den spärlich bekleideten Kreuzgängern den Weg zur Erlösung zu weisen. „Ich würd’s nicht hoch schaffen“, sagt Streckenposten Albrecht und lächelt milde. Währenddessen hangeln, ziehen, stampfen oder schleppen sich die Leidgeplagten und Gepeinigten über die letzten Stufen ihres Martyriums, hinauf in den 29. Stock des Neuköllner Ideal-Hochhauses. Ihre Gesichter sind schmerzverzerrt und totenbleich. Und doch auch voller Freude.

Zum fünften Mal hatten der TuS Neukölln, die SPD und die Baugenossenschaft Ideal zum „Tower Run“ ins höchste Wohnhaus Deutschlands geladen. Rund 70 Sportler mussten zwei ebene Parkplatzrunden und anschließend 465 Stufen bewältigen. Der Pole Jaroslaw Lazarowicz brauchte dafür genau 3 Minuten und 16 Sekunden. Alle anderen brauchten länger.

Die SPD hatte bisher keine parteieigenen Treppenlaufsportler ins Rennen geschickt. Das wurde schon im vergangenen Jahr als imagestrategisches Defizit erkannt. Die Wahl fiel auf Matthias Albrecht, Vizefraktionschef, Marathonläufer und Namensvetter des Streckenpostens. Ungefähr ab Etage 15 wurde dem 31-jährigen Albrecht klar, dass er seiner Partei ein großes Opfer bringt. „Da hatte ich einen Einbruch.“ Fortan hüpft er nicht mehr locker die Stufen rauf, sondern stapft schweißtriefend durch das triste, grob verputzte Nottreppenhaus, das eine gute Kulisse für Horrorfilme abgäbe. Auf den letzten Höhenmetern ist sein Körper nur noch gequälte Kreatur. Als er durch die Flurtür wankt – das ist die Ziellinie – klackt die große Zeittafel gerade auf: 5 Minuten, 36 Sekunden.

Damit ist er immer noch schneller als Annette Schwarzkopf aus Münster. Die Beamtin lief zum Training die beiden Bettentürme der Uni-Klinik Münster immer rauf und runter und erreicht in der „Altersklasse Masterinnen“ – das sind Frauen über 40 – den ersten Platz. Da die Organisatoren in erfreulich viele Altersklassen unterteilen, kann sich auch der 71-jährige Gerrit Ganzkow vom vorletzten Platz in der Masters-Klasse auf den ersten Platz in der „Altersklasse über 70“ verbessern. Ein schöner Erfolg für den ältesten Teilnehmer des Tower-Runs. Ganzkow bereitet sich immer mit „Holzsägen im eigenen Garten“ auf den Wettkampf vor. „Sport mache ich nicht mehr.“

Die 23-jährige Triathletin und Studentin der Mathematik Grit Freiwald siegt in 4:32 bei den Frauen. Sie hatte sich schon in den beiden Parkplatzrunden an die Spitze gesetzt, um als Erste ins Hochhaus einzulaufen. Ein Treppenhausrennen funktioniert ähnlich wie die Formel 1. Überholen ist im beengten Raum äußerst schwierig. Der Regelfall ist ein Start-Ziel-Sieg.

Im Gemeinschaftsraum des Hochhauses, im 30. Stock, werden die Treppenläufer nach dem Rennen mit Zitronentee, Bananen und frisch geviertelten Äpfeln versorgt. Obwohl noch am Schnaufen und Röcheln, lassen sich einige Teilnehmer schon mit Urkunden fotografieren. Eine Ambulanz stünde auch zur Verfügung, wird diesmal aber nicht gebraucht. Dann nehmen alle den Fahrstuhl nach unten.

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