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Berlin: Trennung als Todesurteil

Zwölf Jahre nach dem mutmaßlichen „Ehrenmord“ an seiner Freundin steht ein Türke vor Gericht

Tränenreich bat er um eine letzte gütliche Aussprache. Kirstin S. gab nach. Sie soll sich mit Aydin Y. noch einmal getroffen haben. Sie kehrte nicht mehr nach Hause zurück. Drei Wochen später wurde nach einem anonymen Hinweis die Leiche der 17-Jährigen gefunden. In einen Teppich gerollt und zusammengeklappt zu einem Paket lag sie in einem Kellerverlag in der Weddinger Sprengelstraße. Bald fiel der Verdacht auf ihren damaligen Freund. Doch erst zwölf Jahre, vier Monate und 27 Tage nach dem Mord begann gestern vor dem Landgericht der Prozess gegen Aydin Y.

Die Staatsanwaltschaft geht von einem so genannten Ehrenmord aus. Der heute 37-jährige Türke habe Kirstin mit „falschen Tränen“ aus ihrem Elternhaus gelockt. Weil sie es gewagt hatte, sich von ihm zu trennen und sich mit einem anderen Mann einzulassen, soll er sie gewürgt und mit Stichen in den Hals umgebracht haben. „Um seine Ehre wiederherzustellen“, heißt es in der Anklageschrift. Äußerlich regungslos hörte Aydin Y. die Vorwürfe. Äußern wollte er sich nicht.

Die in Kanada geborene Kirstin S. lebte mit ihren Adoptiveltern in Wedding. Aydin Y. war ihre erste große Liebe. Sie schmiss für ihn die Schule, ließ sich ganz auf den türkischen Mann ein, der bereits seine Ex-Frau geschlagen haben soll. Und nicht das machte Y. verdächtig: Als Kirstins Eltern noch fieberhaft nach ihrer Tochter suchten, soll er bei ihnen angerufen, sie verhöhnt und bedroht haben. Sprüche wie „die Leiche liegt im Keller und stinkt vor sich hin“ schrieben ihm die Ermittler zu. Auch eine Freundin der Getöteten erhielt einen anonymen Anruf. „Dir geht es genauso wie der Kirstin“, drohte jemand. Nach Überzeugung der jungen Frau, die wie alle nach Kirstin suchte, war Y. der Anrufer. Der aber hatte sich abgesetzt: Am 13. Januar 1994 – einen Tag nach dem Mord – flog er in seine Heimat. Als er gegen Mittag in einer Maschine nach Istanbul saß, kam es zu einem Gespräch mit einem anderen Passagier. Aydin Y. soll von einem Streit mit seiner Freundin berichtet haben. Sie sei mit einem Messer auf ihn losgegangen, er habe sie getötet und in einem Weddinger Keller versteckt. Dieses Gespräch hatte zufällig ein weiterer Passagier mitbekommen. „So eine Spinnerei“, dachte der. Als der Mithörer drei Wochen später wieder in Berlin war, las er von einem verschwundenen Mädchen – und ging zur Polizei.

Die Ermittler waren dem Mordverdächtigen fast die gesamte Zeit auf den Fersen. Aydin Y. aber lebte unbehelligt in seiner Heimat, heiratete in Izmir sogar eine deutsche Kindergärtnerin. Als Türke hatte er eine Auslieferung durch sein Heimatland nicht zu befürchten. Die deutschen Behörden hätten den Fall zwar an die Türkei übergeben können. Darauf aber habe man bewusst verzichtet, sagte der Staatsanwalt am Rande des Prozesses. In einem Fall eines Mordes aus verletzter Ehre sei in der Türkei damals keine angemessene Strafe zu erwarten gewesen.

Im September vergangenen Jahres wurde Aydin Y. auf dem Flughafen München festgenommen. Er wollte gerade seine Ehefrau besuchen. Der Prozess wird am 26. Juni fortgesetzt.

Kerstin Gehrke

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