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Regal, Hauptsache weg. Auf den ersten Blick befinden sich in den grauen Metallgestellen des Auktionshauses Beier nur Alltagsgegenstände. Aber auch die haben ihren Wert.

© Doris Spiekermann-Klaas

Trödelhändler in Berlin: Der Rest des Lebens

„Nicht an Dinge hänge dein Herz“, lautet ein weiser Rat. Die Menschen halten sich meist nicht daran. Wenn sie dann sterben, bleiben Hausrat, Möbel und kleine Schätze übrig – und Trödelhändler übernehmen.

Das Zeug muss weg. Drei Regalmeter füllt es. Graues Metallregal. Darauf Bücher, Geschirr, Plüschtiere, Fotoalben, Utensilien des täglichen Bedarfs. Das Zeug hat mal jemandem gehört, vielleicht über Jahre, Jahrzehnte hinweg zusammengetragen. Menschen nennen so etwas ihr Leben. Das ist es jetzt nicht mehr. Nur sechs Regalmeter Lebenszeug, das weg muss.

Einmal Hausrat, sagt eine hoch aufgeschossene Dame, schwarz gekleidet, lockiges schwarzes Haar, und blickt in verschlossene Männergesichter, die sie umringen. Monika Beier hat eine schwarze Mappe mit den Posten der Auktion vor sich, auf deren Rand sie mit einem Hämmerchen schlägt. 65 Euro laute das Anfangsgebot, sagt Beier nach einem Blick in ihre Mappe. 65, wiederholt sie.

Ein Nicken.

Erster, sagt sie.

85, sagt einer der Männer.

90, sagt die Dame. Nicken... 100… 110.

Erster 110?

Die Männer kommunizieren mit den Köpfen. Jedes Nicken ist eine Erhöhung des Geldbetrags.

120… 130.

Erster 130, Zweiter.

140… 150.

Erster 150?

Zwischen dem Kram liegt eine helle Bronzeskulptur, ein Engel, Michael Fürstenau hat ihn längst entdeckt, so wird er die Szene später schildern, aber so getan, als habe er nicht. Als sei da nichts in dem Regal. Weshalb er sich auch etwas abseits positioniert hat. Er trägt einen hellgrauen Fischgrätmantel, den Hals wie eingezogen in mehrere Schals. Er ist unter den Bietern einer der Spezialisten. Nie gehe er über sein Limit, wird er später sagen. Das Höchstgebot ist eine Wette auf sein Wissen. Wer mehr bietet als er, der kennt den Wert nicht, sagt er. Wer nicht mithält, sowieso nicht. Er weiß um die Summen, die er später mit einem Objekt wird erzielen können. „Eine Eigenart meines Gehirns ist“, sagt er, „einen einmal gehörten Preis nicht mehr zu vergessen.“

Neulich hat er medizinische Schränke ersteigert. Er folgt damit einem Trend aus Frankreich. Dort werden solche Möbel abgeschmirgelt, bis das blanke Metall hervortritt, und mit Klarlack überzogen. Sie bringen dann als Designerstücke viel Geld. In Deutschland ist der Trend noch nicht angekommen. Ein Sammler wie Fürstenau hat Geduld.

Aber nun ist da dieser Bronze-Engel in dem Regal, unpoliert, grob, eine Spur zu abstrakt, um ihn schön zu finden. Er berührt Gefilde seines Wissens, die Fürstenau schon lange nicht mehr bemüht hat. Die Signatur des Künstlers, ein Prägestempel der Gießerei. Alles da, was die Nachkriegsskulptur zu einem Original macht. Fürstenau ist sich ziemlich sicher in dem Moment.

540... 550... Erster 550? Zweiter? Und verkauft. In ihrem Auktionshaus in Tempelhof schwingt Monika Beier das Hämmerchen.
540... 550... Erster 550? Zweiter? Und verkauft! In ihrem Auktionshaus in Tempelhof schwingt Monika Beier das Hämmerchen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Deshalb ist er vor der Auktion zu einem der arabischen Händler gegangen, die hier, im Auktionshaus Beier in Tempelhof, den Trödel regalmeterweise kaufen. Ein Großbieter in der Runde jener zwei Dutzend Männer, die sich jeden Dienstag mit Nachschub für ihre Flohmarktstände versorgen. Fürstenau hat dem Mann einen Festpreis für die Skulptur angeboten. Nur die Skulptur. Das hat dem Händler die Möglichkeit gegeben, für sich ein eher großzügiges Höchstgebot zu berechnen, denn die Summe für das schwere Bronzeteil war ihm ja garantiert.

160… 170… 180.

Erster 180?

Die Wohnung

Menschen kaufen Dinge. Sie besitzen Dinge. Sie umgeben sich mit ihnen, nutzen und brauchen sie. Wohnen ist ein Prozess allmählicher Gewöhnung an sie. Aber dann sterben die Menschen. Was wird aus den Dingen? Als sie das erste Mal erstanden wurden, hatten sie ein Preisschild. Doch der Wert, den sie für ihre Besitzer hatten, war davon unberührt. Jetzt ist dieser Wert verloren gegangen, ein neuer muss gefunden werden. Wie geschieht das? Und wer ist daran beteiligt?

Um herauszufinden, was von einem Menschen übrig bleibt, sucht Modesta Bauschke an einem Montagmorgen im Dezember die richtige Tür. „Nachher wollen die Leute von mir meist wissen, wie der Mensch gestorben ist“, sagt sie und angelt in einem braunen Kuvert nach dem Wohnungsschlüssel. „Aber ich weiß ja nichts über den Tod.“

Damit geht es schon mal los, mit einem Bruch der Überlieferung und verlorenem Wissen. Als das Amtsgericht Charlottenburg sich an die zierliche Rechtsanwältin wandte, um sie mit der Nachlasspflege zu beauftragen, da gab es Ludger Brommer* schon nicht mehr. Modesta Bauschke, Spezialgebiet Erbrecht, und nun vor der Tür von Brommers Wohnung darauf konzentriert, aus einem Bund unterschiedlich großer, unterschiedlich abgegriffener Schlüssel den passenden herauszufischen, tritt üblicherweise auf den Plan, wenn Dinge herrenlos geworden sind. „Sicherungsbedürftige Verwaltung des Nachlasses“ ist der Fachausdruck dafür.

Das sei nichts für schwache Nerven, sagt die Anwältin. „Man nimmt so viel auf von dem Elend des Sterbens, das ist so ... mithin ... ich bin am Anfang krank geworden“, sagt sie mit dünner Stimme und streift sich weiße Handschuhe über die gepflegten Hände. Sie trägt Sakko, Rollkragenpullover und eine Ledertasche, die Brauntöne elegant aufeinander abgestimmt.

Tief beugt sie sich zu dem ausgeblichenen Klingelschild herab. Ja, doch, Brommer, der richtige Name. Der erste Schlüssel passt nicht. Aber der vierte. Eine muffige Luftwalze empfängt Modesta Bauschke, als sie die Tür aufdrückt. Wenn der Erblasser in seiner Wohnung verstorben sei, sagt sie, hänge ihr der Leichengeruch noch lange in den Kleidern. Ludger Brommer wurde von einem Notarzt abgeholt und starb vor ein paar Wochen im Krankenhaus. Erben unbekannt. Seither ist seine Wohnung verwaist.

Deshalb ist jetzt Modesta Bauschke vor Ort. Sie versuche, auf ihrem Rundgang durch die verlassenen Räume, den Erblasser zu verstehen. Sie spreche mit der Wohnung: „Erzähl mir was von dir. Sag mir, wo du das Wichtige aufbewahrst.“

Bleibende Werte. Silbermünzen aus dem Nachlass von Ludger Brommer werden in Augenschein genommen.
Bleibende Werte. Silbermünzen aus dem Nachlass von Ludger Brommer werden in Augenschein genommen.

© Kai Müller

Brommer, Jahrgang 1950, war auf seinen Tod nicht vorbereitet, oder er wartete schon viel zu lange. Sein Leben zerfiel, bevor es zu Ende ging. In der Wohnung findet Bauschke in jedem Zimmer Umzugskartons, übereinander gestapelt. Brommer hat sich nicht mehr die Mühe gemacht, sie auszuräumen, nachdem er möglicherweise aus einem Haus oder einer größeren Wohnung hierher gezogen war. Es war seine Eigentumswohnung und Kapitalanlage. Die Wände sind kahl geblieben. Briefe, meist von Behörden, liegen stapelweise zwischen Büchern, DVDs und eingeschweißten Oberhemden im Regal. In diversen Schubladen finden sich Armbanduhren, drei Paar Herrenschuhe stehen unter dem Telefonschränkchen im Flur. Hemden und Jacken hängen ohne erkennbare Ordnung an einer Kleiderstange neben der Wohnungstür. Nur fünf abgegriffene Teddybären hatten in Brommers Leben einen Platz: Liebevoll aufgereiht auf einem Sofa. Es fehlt: ein Bett.

"Ich freue mich, Sachen für die Erben zu finden"

Ludger Brommer war zuletzt ein Pflegefall. Das hieß: Er bewegte sich von dem Schlafsofa offenbar nicht mehr fort, vor dem drei Fernseher unterschiedlichen Alters aufgebaut sind und dessen buntes Bettzeug den stillen Mittelpunkt der Wohnung bildet. Auf dem schweren Marmortisch davor liegt zwischen Programmzeitschriften die umgestürzte Porträtaufnahme einer Frau in ausgeblichenen Farben und Goldrahmen. Offenbar Brommers Mutter. Es ist der einzige sichtbare Hinweis auf einen anderen Menschen im Leben des Verstorbenen.

Einsamkeit ist ein weit verbreitetes Berliner Altenschicksal. Bei jedem achten Todesfall ordnet das zuständige Amtsgericht eine sogenannte Nachlasspflegschaft an. 3940 Fälle waren das 2014. Es ist ein kleiner Kreis Auserwählter, die von den Amtsgerichten als Nachlasspfleger eingesetzt werden, weil die Verstorbenen keinen Kontakt mehr zur Familie hatten, Angehörige zunächst nicht ausfindig zu machen sind und auch keine Erben per Testament benannt wurden. Meist nimmt zunächst die Polizei die verwaisten Wohnungen in Augenschein. Das Wasser wird abgedreht, in Unterlagen nach Personen gesucht, die benachrichtigt werden müssten, und die Zugangstür verplombt. Manche der Beamten würden Akten anlegen, in denen alles Nötige zu finden sei, das mache es ihr einfacher, sagt Bauschke. „Ich möchte es für den Toten schön abschließen und freue mich, Sachen für die Erben zu finden.“

In deren Namen verrichtet Bauschke ihren Job. Nicht so schön ist ein Nachlass, ohne dass Erben ermittelt werden können. Und noch weniger schön: wenn der Tote an Werten zu wenig hinterlässt, um Aufträge für Räumung, Reinigung und Renovierung erteilen zu können. Denn das Procedere soll kostenneutral abgewickelt werden. Viele Nachlassverfahren scheitern deshalb schlicht am Geld. Wenn keines da ist, würde Bauschkes Vergütung der Staat übernehmen, was sie beantragen müsste. Die Habe des Toten fällt dann oft dem Vermieter zu. Der sieht darin üblicherweise Müll, der bloß Mietausfälle verursacht.

Rosenthaler Porzellan, ein edler Füller, Schweizer Uhren

Kontoauszüge würden ihr alles Wissenswerte über eine Person erzählen, meint die Nachlasspflegerin. Die Pflichten eines Menschen verraten ihn stärker als seine Güter. Aber so genau hat Herr Brommer nicht Buch geführt. Darum muss Modesta Bauschke jetzt durch Stöbern herausfinden, welche Werte er noch hinterlassen hat, nachdem das Sozialamt bereits wegen der Pflegehilfe zu Lebzeiten Brommers eine Sicherungshypothek auf dessen Eigentumswohnung hat eintragen lassen. Im Wäscheschrank wird sie fündig. Das klassische Versteck. Zwischen Laken entdeckt Bauschke eine Sammlung von Münzen. „Das hätte dem Sozialamt angezeigt werden müssen.“

Weil sie jedoch den Wert solcher Münzen sowie des Inventars nicht einzuschätzen vermag, bittet sie beim zweiten Besuch in Brommers Wohnung einen Fachmann hinzu. Roger Mirr ist Nachlassverwerter. So steht es auf seiner Visitenkarte. Der Unterschied zwischen Mirr und einem Trödelhändler ist der, dass Mirr seinen Aufwand in Stundensätzen abrechnet. Vom Erlös des Nachlasses erhält er zusätzliche sechs Prozent.

Er legt die Münzen im Licht des Küchenfensters aus. Ja, interessant, grummelt er, und schätzt die Sammlung an Edeltalern auf 8000 Euro. Aber da auch seltene Silberstücke mit der Prägung „Römisches Reich“ darunter sind, könnten sie für Sammler einen weitaus höheren Wert besitzen. Bei Auktionen wisse man das nie so genau, da würden durch Bieterduelle zuweilen Ergebnisse „fern jeder Realität“ erzielt.

„Herr Brommer hätte das nicht haben dürfen“, sagt Modesta Bauschke. Denn Brommers Schatz geht weit über die 2600 Euro Schonvermögen hinaus, die einem Sozialhilfeempfänger zugestanden werden. Das Rosenthaler Porzellan, Maria Weiß, in einem Glasschrank kommt noch dazu. „Mindestgebot 120 Euro“, sagt Mirr. Ebenso der Montblanc-Füllfederhalter, originalverpackt mit Rechnungsbeleg über 500 D-Mark. Bei den Schweizer Uhren aus der Schublade im Flur ist Mirr unsicher. Er müsse die Deckplatte mit einem Spezialschlüssel aufstemmen, um das Uhrwerk zu begutachten.

Die Entrümpelung

Lebenszeug. Der Wert, den die Dinge für ihre Besitzer hatten, geht nach deren Tod verloren. Ein neuer Wert muss gefunden werden.
Lebenszeug. Der Wert, den die Dinge für ihre Besitzer hatten, geht nach deren Tod verloren. Ein neuer Wert muss gefunden werden.

© Doris Spiekermann-Klaas

Es besteht kein Zeitdruck. Da Brommer Eigentümer der Wohnung war, muss die Entrümpelung nicht in der vom Berliner Mietergesetz bestimmten Frist von drei Monaten erfolgen. Nachlasspflegerin Bauschke wird einen Gutachter beauftragen, den Verkehrswert der Immobilie zu ermitteln. Sie brauche einen unanfechtbaren Beleg, erklärt sie, um sich vor möglichen Erben rechtfertigen zu können. Aus demselben Grund werden detaillierte Listen der Wertgegenstände angelegt.

Auf der Treppe nach unten wird Modesta Bauschke noch einmal nachdenklich. „Wir sind doch nach dem Motto erzogen worden“, sagt sie, „,Nicht an Dinge hänge dein Herz‘.“ Im nüchternen Treppenhaus des 60er-Jahre-Baus hallt der Satz drohend nach. „Und es stimmt“, sagt sie.

Ein paar Tage später stehen Mirr und ein Mitarbeiter in Brommers Wohnung und entscheiden: Dies ist Müll, jenes nicht. Für dieses findet sich immer jemand, für das aber eher nicht. Mirrs Sortierblick ist das Ergebnis jahrelanger Übung. Man dürfe sich bei den Auktionshäusern nicht lächerlich machen, indem man dort den letzten Dreck abliefere. Eigentlich hatte der 40-Jährige Polizist werden wollen. Doch die Ausbildung brach er ab. Wie die meisten landete er über Umwege in diesem Geschäft.

Brommers Leben ist nun eine Vorgangsnummer in Roger Mirrs Akten. Die Entrümpelung ist der erste Filter, durch den die Dinge sortiert werden. In Plastikkisten wird verpackt, was zur Auktion gebracht werden soll: Die Bücher und DVDs, die Flugzeugmodelle vom Schrank, die Möbel und Kleider, der Teppich – jedes wertvollere Einzelteil mit Brommers Vorgangsnummer identifiziert. Der Rest verschwindet in mannshohen Mülltonnen und Recyclingsäcken. Er sei letztlich ein Wohnungsbestatter, sagt Mirr.

Als solcher ist er ein Seismograf der Verarmung. „Die Wohnungen werden leerer“, beobachtet er. Vor 15 Jahren fanden sich im Nachlass einer Frau, die in den Zwanzigern geboren worden war, noch etliche Puppen, jede einzelne ein Unikat. Dasselbe galt für Möbel. Handgefertigte Stücke. „Heute gibt es dieses Besondere fast nicht mehr.“

Außerdem ist an Berlin das Wirtschaftswunder vorbeigegangen. Als in den Fünfzigern das Design die Hoheit übernahm und jenen bleibenden Sinn für Eleganz schuf, der heute wieder für viel Geld gehandelt wird, da war Berlin als Mauerstadt außen vor. Die Vermögenden verließen die Stadt. Der Protz sammelte sich allenfalls in verwinkelten Zehlendorfer Bungalows an. Berlin sei immer „nach hinten ausgebaut worden“, sagt ein Kenner der Trödelszene und meint damit, dass sich der Wohlstand der Mittelschicht hinter nichtssagenden Fassaden versteckt habe.

Vor dem Haus warten zwei Lkw. Der eine fährt direkt zur Deponie. Der andere steuert ein Auktionshaus an.

Das Auktionshaus

Auktionen sind die verlässlichste Art, den Wert einer Sache zu bestimmen, die kein Preisschild mehr hat. In drei Vierteln aller Fälle wählt Nachlassverwerter Mirr deshalb diesen Weg. Wenn Erben die Geduld nicht aufbringen, die es bis zur Versteigerung braucht, dann wird auch schon mal ein Festpreis vereinbart. „Ich bin meist Überbringer einer schrecklichen Botschaft“, sagt Mirr, „denn ich hole die Hinterbliebenen auf den Boden der wirtschaftlichen Tatsachen zurück.“ Meist seien Wertgegenstände sehr viel weniger wertvoll, als man dächte. Trotzdem geht es an Mirr nicht spurlos vorbei, wie rücksichtslos sich die Verwandten am Hausrat eines Verstorbenen bedienten. Die Familienfotos lägen verstreut auf dem Fußboden, sagt er, die Waschmaschine sei allerdings weg. Eine Art Plünderung.

Kein Kram zu klein. Trödelhändler kaufen auf Auktionen meist ganze Regalmeter an Hausrat.
Kein Kram zu klein. Trödelhändler kaufen auf Auktionen meist ganze Regalmeter an Hausrat.

© Doris Spiekermann-Klaas

Monika Beier ist inzwischen bei 190 Euro für die drei gemischten Regalmeter angelangt.

200, sagt sie… 210…

Das Auktionshaus Beier ist ein weiß aufragendes Speichergebäude am Teltowkanal. Fünf Tage lang atmet es Gegenstände ein, die von Nachlassverwertern und Entrümpelungsfirmen angeliefert und auf die 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche im Erdgeschoss verteilt werden. Teppiche vorne links, Kleidung rechts, elektronische Geräte eine Tür weiter, Möbel im großen Raum und Hausrat hinten links, wo sich Gerümpel kleinteilig auf graue Metallregale verteilt. Die Nachlässe sind hier aufgespalten in Verwertungseinheiten. Am sechsten Tag atmet das Haus aus.

Und im heißen Atem der Zahlen und Gebote stehen mehrere Dutzend Trödelhändler, Antiquare, Möbel- und Kunstkenner. In der ersten Reihe die Generalisten, die Alleskäufer und Vielverwerter, die sich hier einmal pro Woche mit Nachschub für ihre Flohmarktstände versorgen und selten Geduld haben. Das Geschäft wird von arabischen Händlern dominiert. Manche ersteigern jeden Dienstag mehrere Regalmeter für 1000 bis 2500 Euro. Sie haben ihre Lakaien dabei, die, kaum dass ein Posten erstanden worden ist, mit dem Einpacken beginnen. Auf sie folgen die Spezialisten und Spürhunde. Das sind Studierte. Sie tragen edle Schuhe und golden eingefasste Brillen. Sie drängen sich nicht in den Vordergrund. Falls sie mitbieten, gehen sie höher ran als der Rest. Sie kaufen einen Posten nur einer Sache wegen, die sich darin verbirgt und deren Wert niemand sonst entdeckt. Kamelhaarmäntel gegen Daunenjacken.

Die guten Stücke sortiert er vorab aus - wenn er sie erkennt

Immer wieder kommt es zu Bieterduellen, teils aus unerfindlichen Gründen. Die Händler wollen dem anderen einen Posten, mit dem sie selbst gar nichts anfangen könnten, nur nicht zu billig überlassen. Andreas Fürstenau fürchtet schon, dass sein Plan für den Engel nicht aufgehen könnte. Einmal habe er selbst, erzählt er später, einem Händler eine lächerlich geringe Summe für eine Miniatur von Picasso angeboten. Sie war aber doch höher als der Händler, obwohl ahnungslos, angenommen hatte, so dass der argwöhnisch wurde. Er behielt das Bild lieber.

220...

Einem alten Herrn mit weißem Schnauzer und dickem Wollpullover, in dem die Späne einer Holzwerkstatt hängen, wird ständig von irgendwem auf die kahle Stelle seines Schädels geküsst. Auf seiner Visitenkarte steht „A. Harb“, aber alle nennen ihn Habibi, Freund. Und das sei er ja wohl, sagt er und umarmt die Luft. „Wenn billig, kaufe ich“, lautet sein Geschäftsprinzip.

Habibi bewegt sich damit am Rand der Gelegenheitsjagd, ein Mann, ehemals Supermarktbetreiber in Beirut, der Vater von acht Kindern ist und Spielzeugfiguren aus seinen Taschen als Glücksbringer verschenkt. In seinem Laden in der Kreuzberger Falckensteinstraße stehen dicht an dicht Kleiderschränke, Kommoden, unter der Decke hängen Stühle. Abgeschliffenes Holz, hell und schön. Möbel für einen Neustart.

Bei Trödelauktionen bieten Flohmarkthändler, Antiquare, Schatzsucher mit. Einer von ihnen ist Herr Harb, Ladenbesitzer aus der Kreuzberger Falckensteinstraße. Alle nennen ihn nur "Habibi", Freund.
Bei Trödelauktionen bieten Flohmarkthändler, Antiquare, Schatzsucher mit. Einer von ihnen ist Herr Harb, Ladenbesitzer aus der Kreuzberger Falckensteinstraße. Alle nennen ihn nur "Habibi", Freund.

© Doris Spiekermann-Klaas

Früher habe er seine Schränke vor allem an Studenten verkauft, sagt er. Nach ein paar Jahren brachten sie die Möbel zurück und zogen fort. Der Regalmeter mit dem Engel ist längst jenseits von Habibis Limit. Er bleibt doch interessiert stehen. Wie viel höher wird der Wettstreit den Preis treiben?

An einem der auktionsfreien Tage im hinteren Teil seines Ladens. Habibis Gesicht glüht im Schein einer offenen Ofenklappe. Mit der Rechten schiebt er ein Holzscheit nach. Wie er da jetzt vor dem lodernden Feuer sitzt und darin Reste von Möbeln versenkt, die er nicht gebrauchen kann, sieht er wie eine Rembrandt-Figur aus.

Nicht gut, sagt Habibi, kein Geschäft heute. Der Tag hat ihm erst fünf Euro eingebracht. Zwei Euro fünfzig, sagt er zu einer Frau, die eine Porzellantasse in die Hand nimmt, als sei ihm die Zahl gerade so in den Sinn gekommen. – „I don't speak …“ – „For you two Euro“, setzt Habibi nach. Für einen Moment ist es, als handele er, um generös sein zu können. Aber die Frau versteht das nicht. Als der Preis sinkt, ist ihr das Tässchen nichts mehr wert.

230... 240... 250...

Wie viel Wert eine Sache hat, lernt jeder Händler auf die harte Tour. „Geld lehrt am besten“, sagt Ulrich Beier. Er hat das Auktionshaus aufgebaut und betreibt es mit seiner Frau. „Wenn es weh tut, macht es einen wenigstens klüger.“ Seit der Ölkrise in den Siebzigern verdient der Mann aus dem Ruhrgebiet sein Geld „lieber mit Müll“, wie Ulrich Beier es ausdrückt, 1983 kam er nach Berlin. Dienstags ist er der Zeremonienmeister eines Schauspiels, bei dem die Gesellschaft erfährt, wie viele haltbare Werte sie quasi unbeabsichtigt hervorbringt. Denn Auktionshäuser wie Beier oder Luedtke am Bahnhof Friedrichstraße bilden den Bodensatz des sozialen Wohlstands ab. Auf einer höheren Ebene agieren Auktionshäuser wie Dannenberg in Steglitz und Quentin in Charlottenburg, die vierteljährlich Sachen unter den Hammer bringen, von denen klar ist, dass sie Wert besitzen, nur nicht, wie viel. Und dann sind da noch die auf bestimmte Dinge wie Briefmarken oder Münzen abonnierten Häuser. Die Nachlässe bei ihm seien zu 80 Prozent minderwertig, sagt Beier. Er verdient an der Einlieferung sowie am Verkauf.

Geld lehrt am besten

Alte Autogrammkarten, Besteck aus Nachlässen: Dem zweiten Warenkreislauf, "Re-Commerce" genannt, gewinnt volkswirschaftlich an Bedeutung.
Alte Autogrammkarten, Besteck aus Nachlässen: Dem zweiten Warenkreislauf, "Re-Commerce" genannt, gewinnt volkswirschaftlich an Bedeutung.

© Doris Spiekermann-Klaas

Da ist es ihm natürlich nicht egal, was in den Regalen liegt. Die guten Stücke sortiert er vorab selbst aus und bietet sie in einem abgetrennten Raum mit Raritäten an. Zu einem höheren Einstiegspreis. Wenn Ulrich Beier etwas übersieht, wie offenkundig den Bronze-Engel, der auf der Seite liegend zwischen Alltagsgegenständen darauf wartet, dass Fürstenau ihn an sich nehmen kann, wenn er sich also verschätzt hat, fragt er dann nach, wie viel ein Stück eingebracht hat? Beier sagt: „Lieber nicht.“ Auch er ist ein Jäger, der sein Wissen teuer erkauft hat.

Aus seiner Frau sprudeln immer höhere Zahlen. 440... 450...

„Viele Geschäfte werden gleich nach der Auktion gemacht“, sagt ein Händler. „Da wird es erst interessant.“

Die Großbieter amortisieren ihren Einsatz nämlich oft noch während der Versteigerung. Aus der zweiten Reihe treten sehr schnell die Spezialisten vor, nur darauf wartend, dass einer zu weit geht. Dieser eine ist an einem anderen Auktionstag Mitte Dezember ein Mann, den sie Smiley nennen, er flucht. „Wenn du mit Deutschen bietest“, sagt er, „machst du ein bisschen Geld, aber gegen Araber verlierst du Geld.“ Warum er nicht ausgestiegen sei? Er drückt sich eine gedachte Nadel in den Unterarm, sagt: „Das ist wie Drogen.“

Was willst du dafür?, fragt der Comic-Händler, auf einen Stapel Lucky-Luke-Hefte deutend. Sie sind wahrscheinlich das Beste an der Charge. Smiley sagt: Gib mir…

Ich gebe dir…

Okay, sagen wir…

Nein, …, mein letztes Wort.

Beier sieht durch den sofortigen Weiterverkauf der Ware sein Hausrecht verletzt. Aber unterbinden könne er es nicht, sagt er.

Du machst mich arm, Mann.

Was ist jetzt?

Nimm den Mist.

Dieser oder ein ähnlicher Wortwechsel wird, von diesem Punkt an, dem weiteren Verkauf vorausgehen. Aus einem Preisschild ist erst ein Wert und jetzt das Ergebnis eines Handels geworden. Die Dinge gehen auf eine neue Umlaufbahn. Diesem zweiten Warenkreislauf, auch Re-Commerce genannt, kommt volksökonomisch eine stetig wachsende Bedeutung zu. Nach einer aktuellen Studie fließen 20 Prozent des europäischen Materialverbrauchs in zirkuläre Verwertungsprozesse ein. Wie groß daran – neben dem Recyclingsektor – der Anteil von gebrauchten Waren ist, weiß niemand genau. Es gibt keine Erhebung zur Größe der Secondhand-Branche.

Die Regeln

540... 550... Erster 550? ... Zweiter?

Tock, macht das Hämmerchen. Für 550 Euro gehört der Posten jetzt Achmed T., dem Händler*, mit dem Michael Fürstenau die Vereinbarung getroffen hat. Wegen des Bronze-Engels.

Was übrig bleibt. Auktionshäuser, die Nachlässe versteigern, bilden immer auch den Bodensatz des sozialen Wohlstands ab.
Was übrig bleibt. Auktionshäuser, die Nachlässe versteigern, bilden immer auch den Bodensatz des sozialen Wohlstands ab.

© Doris Spiekermann-Klaas

Fürstenau greift die Skulptur, aber er hat nichts dabei, um sie zu verhüllen. Weit kommt er in dem Gedränge nicht. An der Tür warten sie schon auf ihn, die aus der zweiten Reihe. Einer, ebenfalls Araber und Antiquitätenhändler, erkennt den Wert des Engels, als Fürstenau sich an ihm vorbeischieben will. Er bietet 800 Euro. Fürstenau lehnt ab. Da will der Mann, dass Achmed T. den Handel rückgängig macht. Sie stehen zu dritt zwischen Händlern, die jedes Wort verfolgen. Aber Fürstenau pocht auf die Absprache. Achmed T. zögert. Er weiß jetzt, was für eine Summe er hätte verlangen können, es ärgert ihn, das Zureden des Arabers macht ihn verlegen, doch hinter sein gegebenes Wort kann er nicht zurück. Keiner der anderen Händler würde jemals wieder Geschäfte mit ihm machen, mit einem, dessen Wort nicht zählt.

Fürstenau, heute 46, hatte eine steile Managementkarriere bei einem großen Einzelhandelskonzern hinter sich, bevor er ausstieg und sein eigenes kleines Unternehmen gründete. „Spezialisten wie ich werden genau beobachtet“, sagt er. „Ich muss teurer ersteigern, weil sie wissen, wie viel mehr ich von bestimmten Waren verstehe.“ Niemand sei in diesem Geschäft eine ehrliche Haut. Doch wird der ungetarnte Eigennutz unter den Flohmarktkönigen ausbalanciert durch Gefälligkeiten, mit denen sie Vertrauen untereinander aufbauen. „Entweder man spielt nach den Regeln, die unter den Händlern gelten, oder man lässt es ganz“, sagt er.

Seinen Kunstverstand hat Fürstenau seinen früheren Nachbarn zu verdanken. Die ebneten ihm, dem smarten Schulverweigerer, einen Weg in die geheimnisvolle Welt des Kunsthandels und Hausratschürfens. Nebenan, so erinnert er sich, gingen damals seltsame Dinge vor. Ein Raum durfte nie betreten werden. Darin arbeitete die Nachbarin, eine angesehene Restauratorin, an beschädigten Werken. Immer, wenn sie eines wiederhergestellt hatte und es zurück ins Museum sollte, stellten sie es im Wohnzimmer auf eine Staffelei, um es zu betrachten. Der Mann der Restauratorin, ein Kunsthändler, erklärte Fürstenau bei einem Glas Wein die Grundzüge der Malerei. Wie die Könner den Pinsel führen. Wie Farben gemischt sind. Ob bei Porträts die Hände stimmen, denn Hände zu malen ist schwer. Und: „Schau ein Bild erst mal von hinten an, bevor du es nach vorne trägst.“

Das war seine private Akademie. Und es kam mit den Jahren immer mehr an Wissen dazu, um in den Treibgütern des Lebens die guten Stücke auszumachen. Als Andreas Fürstenau zu Hause die Herkunft der Bronzeskulptur zu ergründen beginnt, erlebt er eine Überraschung. Die Gießerei muss in einem uralten Verzeichnis nachschlagen, um den Auftrag zu finden. Aber sie bestätigt die Echtheit. Wie die Skulptur danach ihren Weg in eine Fuhre Hausrat finden konnte, bleibt schleierhaft. Der Erbe des Künstlers verspricht, das Werk, von dessen Existenz er nichts wusste, ins offizielle Werkverzeichnis aufzunehmen. So steigt dessen Wert beträchtlich. Auch die Villa Grisebach meldet sich umgehend zurück, als Fürstenau seinen Fund in einer Mail beschreibt.

Das Auktionshaus wäre in Berlin bei Kunst die erste Adresse. Doch etwas lässt Fürstenau zögern. Er will nicht erleben, dass der Preis nun von anderen gemacht wird. Von Händlern mit besseren Verbindungen, als er sie hat – auf einem Markt, den er nicht durchschaut. Deshalb darf der Name des Künstlers in dieser Geschichte ebenso wenig erwähnt werden wie der Kaufpreis. Obwohl Fürstenau darauf brennt zu erfahren, wie viel die Skulptur einbringen wird, findet er, dass sie sich auf dem kleinen Tisch bei ihm zu Hause ganz gut macht. Dass es wohl ein Tausendfaches dessen sein wird, was er bezahlt hat, sagt sein Grinsen.

* Name von der Redaktion geändert

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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