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Foto: Kitty Kleist-Heinrich

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Trotz akuter Erkrankungen: Warum manche Obdachlose die Betreuung im Krankenhaus ablehnen

Vergebliche Hilfe. Ein Obdachloser verlässt nach schwerer Operation eigenmächtig die Klinik – es ist kein Einzelfall.

Als sie Andris Kanautis (Name geändert) begegnete, fünf Tage nach der schweren Operation, hätte er eigentlich in einem Krankenhaus liegen müssen, einem, das auf Herzprobleme spezialisiert ist. Er hätte die Betreuung durch Ärzte und Krankenschwester benötigt. Er hätte danach in eine Reha-Einrichtung gehört. „Er hätte behandelt werden müssen wie ein rohes Ei“, sagt Ärztin Sabine Rutsch.

Aber als sie ihn antraf, lag Kanautis auf einer verschmutzten Matratze unter einer S-Bahn-Brücke am Hansaplatz, die Beine von einem schmutzigen Schlafsack umhüllt. Seine rechte Hand umklammerte eine Wodkaflasche, im Mundwinkel hing eine Zigarette. Die Haare des obdachlosen Letten waren verfilzt.

Der 39-Jährige steht für eine dieser Geschichten, die für Sabine Rutsch „grotesk“ und „absurd“ sind. Sie steht für das Gefühl enormer Hilflosigkeit, das eine Ärztin empfindet, die sich ehrenamtlich um Menschen kümmert, die auf der Straße leben. Es geht um die Situationen, in denen sich High-Tech-Medizin und ein ganz harter Alltag schwerwiegend vermischen.

„Es ist so unglaublich schwierig, obdachlosen Menschen nachhaltig zu helfen. Das ist sehr frustrierend“, sagt Sabine Rutsch. „Das Geld für die medizinische Behandlung von Andris Kanautis ist eigentlich in den Wind geschossen.“ Mehrere tausend Euro.

Eine zentimeterlange Narbe auf dem Oberkörper

Auf den Letten stieß sie an einem Donnerstagabend Ende Juni bei einer Routinefahrt. Die Lungen-Fachärztin war mal wieder mit dem Ambulanzbus unterwegs, zu bekannten Standorten von Obdachlosen. Um Verbände zu wechseln, Medikamente auszuteilen oder einfach nur Hallo zu sagen. Routine war an diesem Abend auch der Gang zur S-Bahn-Brücke am Hansaplatz. Da liegen ständig Obdachlose. Plötzlich kam ihr ein Mann entgegen und sagte in gebrochenem Deutsch: „Kollege braucht Hilfe.“

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Der Kollege war Kanautis auf seiner Matratze. Sabine Rutsch kennt ihn schon lange, er war mal stationär in einem Pflegezimmer der Stadtmission untergebracht. „Welche Probleme hast Du?“ Kanautis öffnete sein Hemd. Eine zentimeterlange Narbe war auf seinem Oberkörper zu sehen. Sabine Rutsch erschrak. „Hast Du einen Krankenbericht, Andris?“ Der Lette zog ein zerknittertes Papier in einer Plastikhülle aus seinem Rucksack. Jetzt erkannte die Ärztin das Ausmaß der Dramatik.

Er erklärte nicht, weshalb er gegangen war

Der Lette hatte fünf Tage zuvor in einem Krankenhaus in Berlin eine neue Herzklappe erhalten. „Eine sehr teure Operation“, sagt Sabine Rutsch. Aber der entscheidende Satz in dem Bericht lautete: „Gegen den Rat der Ärzte hat er das Krankenhaus verlassen.“ Andris Kanautis aus Lettland, 39 Jahre alt, ohne Krankenversicherung, hatte seine Schutzzone eigenmächtig verlassen. Den Ort, an dem ihm, sollte er ein besonders schwerer Fall gewesen sein, möglicherweise das Leben gerettet worden ist. „Und jetzt“, sagte Sabine Rutsch, „ist er hier, ohne Medikamente, ohne Nachsorge.“

Andris Kanautis erklärte nicht, weshalb er gegangen war. Sabine Rutsch kann es nur vermuten. Alkohol wäre eine Erklärung. Im Krankenhaus wird kein Alkohol ausgegeben. Menschen, die alkoholabhängig sind, erhielten stattdessen Medikamente, sagte die Ärztin. Aber nicht immer werden die von den Patienten klaglos akzeptiert. Vielleicht hatte es der Lette auch nicht im Krankenhaus ausgehalten, weil er mit der Umgebung nicht klarkam, weil er Probleme hat in geschlossenen Räumen.

Für Krankenhäuser ist der Umgang mit schwer Alkoholkranken immer schwierig. Einen kompletten, abrupten Entzug kann man oft nicht verantworten, weil der körperliche Schaden möglicherweise noch verstärkt wird. Es gab schon mal einen Fall, in dem ein Patient, der keinen Alkohol erhielt, ins Delirium tremens stürzte, einen potenziell lebensbedrohlichen Zustand. Andererseits dürfen Krankenhäuser keinen Alkohol ausschenken.

Niemand darf im Krankenhaus festgehalten werden

Aber niemand kann einen Menschen daran hindern, auf eigene Verantwortung das Krankenhaus zu verlassen, auch nicht einen Obdachlosen ohne Krankenversicherung. Und Kanautis ist ja nicht der einzige Patient, der früher als nötig wieder auf die Straße ging.

Jetzt liegt der Lette im Pflegezimmer der Stadtmissio Jetzt liegt der Lette im Pflegezimmer der Stadtmission. Dafür hatte Sabine Rutsch sofort gesorgt. „Im Moment versuchen wir die weitere Unterbringung zu klären“, sagt Svetlana Krasovski-Nikiforovs, die Leiterin der Ambulanz. Sie kennt Geschichten von Patienten, die sich selber entlassen. „Oft sind Entscheidungen dieser Menschen für uns nicht nachvollziehbar.“

Dafür hatte Sabine Rutsch sofort gesorgt. „Im Moment versuchen wir die weitere Unterbringung zu klären“, sagt Svetlana Krasovski-Nikiforovs, die Leiterin der Ambulanz. Sie kennt Geschichten von Patienten, die sich selber entlassen. „Oft sind Entscheidungen dieser Menschen für uns nicht nachvollziehbar.“

Aber Priorität hat immer die medizinische Hilfe. Gesundheits-Staatssekretär Martin Matz (SPD) sagt: „Grundsätzlich sind die Krankenhäuser verpflichtet, Notfälle entsprechend zu behandeln. Es werden alle Maßnahmen vorgenommen, die keinen Aufschub dulden.“ Das gelte auch für eine längere stationäre Aufnahme, sofern dies nötig sei. „Was gemacht wird und was nicht, richtet sich nicht nach den Kosten, sondern nach der unmittelbaren medizinischen Erforderlichkeit.“

Charité: Jeder wird behandelt, "unabhängig vom Versicherungsstatus"

Auch Charité-Pressesprecherin Manuela Zingl sagt: „Jeder akut kranke Patient wird behandelt, unabhängig vom Versicherungsstatus.“ In der Charité wurde etwa der 74-Jährige behandelt, der beim Joggen gestürzt war und das Bewusstsein verloren hatte. Er lag vier Monate auf der Intensivstation, erst dann konnte seine Identität geklärt werden. „Ihn haben wir auch behandelt, ohne zu wissen, ob er eine Krankenversicherung hatte“, sagt Manuela Zingl. Er hatte eine.

Seit Oktober 2018 gibt es eine Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen. Dort wird versucht, Menschen wieder in einer Krankenversicherung unterzubringen. Wenn jemand keinen Leistungsanspruch hat, etwa ein Obdachloser, kann er bei der Clearingstelle einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Mit diesem Antrag kann er sich dann in Krankenhäusern, aber auch in den Praxen niedergelassener Ärzte behandeln lassen. Die Clearingstelle wird mit jährlich 1,5 Millionen Euro von der Senats-Gesundheitsverwaltung finanziert.

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