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Berlin: Türkische Klänge im Altenheim

Immer mehr Migranten verbringen ihren Lebensabend in Deutschland – obwohl sie das nie geplant haben

Er hatte zu lange gewartet. 1980 wollte Irol Üzel aus Charlottenburg zurück nach Istanbul. Mit dem gesparten Geld aus zwölf Jahren harter Arbeit im Schlachthof Spandau hätte er gut in der Türkei leben können. Aber seine fünf Kinder gingen damals noch in Berlin zur Schule und seine Frau hatte sich an das Leben in Deutschland gewöhnt. Irol Üzel blieb. Er sagt: „Das war der größte Fehler.“ Der starke Mann, der immer gearbeitet hatte, sitzt heute, mit 60 Jahren, im Rollstuhl. Nach einem Schlaganfall vor sieben Jahren ist seine linke Seite gelähmt. Er glaubt, dass ihm das in der Türkei nicht passiert wäre. „Dort hätte ich nicht so viel Stress gehabt.“

Jetzt malt er mit Wasserfarben Schmetterlinge an, die seine Ergotherapeutin aus Kaffeefiltern ausgeschnitten hat. Das ist Teil seiner Beschäftigungstherapie bei Deta-Med in Moabit. Das Berliner Unternehmen hat sich auf sogenannte „kultursensible“ Altenpflege spezialisiert. Vor allem Türken nutzen das Angebot. Aus dem Radio in Räumen des alten Moabiter Krankenhauses schallt türkische Musik. Ein alter Mann mit gehäkeltem Käppchen auf dem Kopf liest die Zeitung „Hürriyet“. Zum Frühstück gibt es neben Brot und Marmelade auch Oliven, Schafskäse und Tomaten.

Kultursensible Altenpflege bedeutet für Deta-Med, auf die kulturellen Bedürfnisse der Senioren Rücksicht zu nehmen, zum Beispiel beim Glauben, bei der Körperreinigung und Ernährung. Und Verständnis zu zeigen. „Hier sehen sie uns nicht wie kranke Leute, sondern behandeln mich wie einen Vater, einen Onkel“, sagt Irol Üzel. Deta-Med behandelt vor allem Demenz-Patienten. „Es sei wichtig, gerade sie in ihrer Kultur und ihrer Muttersprache zu betreuen, denn sie kehren geistig in ihre Kindheit zurück“, erklärt Nare Yesilyurt Karakurt, Geschäftsführerin von Deta-Med. Die Nachfrage nach kultursensibler Altenpflege sei enorm. „Wir platzen aus allen Nähten.“ Betreutes Wohnen für Demenzkranke und ein Seniorenwohnheim für Migranten sind ihre nächsten Pläne.

Bis zum Jahr 2010 wird sich die Zahl der in Berlin lebenden Migranten über 65 Jahre auf 40 000 fast verdoppeln. Im Jahr 2020 sollen es nach Schätzungen über 57 000 sein. Nicht mitgezählt sind dabei die Spätaussiedler und Eingebürgerten. Die Alten sind die Migrantengruppe, die am schnellsten wächst. Berlin sei auf diese Situation nicht eingestellt, aber die Verantwortlichen in der Politik und den Einrichtungen seien sensibilisiert, sagt Ulrika Zabel, die Projektkoordinatorin für die interkulturelle Öffnung der Altenhilfe von Arbeiterwohlfahrt und Caritas. Mehr noch als türkischsprachiges Pflegepersonal seien Fortbildung und Qualifikation nötig – und eine andere Haltung. „Die älteren Migranten wünschen sich, dass ihre Lebensleistung gewürdigt wird. Im Alter wollen sie nicht mehr infrage gestellt werden: ihre Sprache, ihr Aussehen, warum sie sind, wie sie sind“, sagt Zabel.

Der Bedarf an Altenpflege für Migranten ist auch groß, weil ihr Gesundheitszustand oft schlecht ist. „Sie sind den Risiken des Alterns wie Armut, Krankheit und Einsamkeit extremer ausgesetzt“, sagt Ulrika Zabel. Die ehemals schlechten Arbeitsbedingungen sind ein Hauptgrund dafür, dass Arbeitsmigranten oft früh krank werden. Viele schufteten in Akkordarbeit. Die Räume waren oft schlecht beleuchtet und belüftet, feucht, laut oder zugig, erklärt Deta-Med-Geschäftsführerin Nare Yesilyurt Karakurt. Schon mit 55 bis 60 Jahren bräuchten sie oft Pflege.

Dabei machte der Rückkehrwunsch die Lebensqualität nicht selten schon lange vorher kaputt, sagt Derya Wrobel vom Sozialverband VdK. Sie betreut demenziell und psychisch erkrankte Migranten. Um Geld für den Lebensabend in der Heimat zu sammeln, arbeiteten die Menschen hart und sparten an der Ernährung, an der Wohnung. Körperliche und seelische Krankheiten seien die Folge. „Es ist eine große emotionale Belastung, den Rückkehrplan immer wieder zu verschieben.“ Bei ihren Hausbesuchen findet Wrobel leere Koffer unter den Betten und auf den Schränken, die die Migranten einst für die große Rückkehr sammelten. „Aber nach 20 Jahren im Herkunftsland und 40 Jahren im Einwanderungsland ist es ein Altsein in der Fremde, wenn die Migranten dann doch zurück in die Türkei gehen.“ 90 Prozent der Migranten, die bei Deta-Med gepflegt werden, leiden an Depressionen. In den 70er Jahren gab es dafür sogar eine eigene Diagnose: „Heimweherkrankung“.

Ans Altsein in Deutschland wollen die 62-jährige Filiz Yüreklik und ihre Freundinnen noch nicht denken. „Über die Zukunft sprechen wir sehr selten. Wir leben im Jetzt.“ Sie sitzen im Kreuzberger Zentrum „Familiengarten“, singen türkische Lieder und klatschen rhythmisch dazu. Ihr Chor heißt „Zweiter Frühling“. Den erleben die Frauen in Berlin. „Ich habe dem Land meine Kraft gegeben, jetzt will ich mein Leben hier genießen“, sagt Filiz Yüreklik.

Polen bilden nach den Türken die zweitgrößte Migrantengruppe in Berlin. Körperlich gehe es ihnen besser als den Türken, sagt Witold Kaminski vom polnischen Sozialrat. Sie hätten nicht so harte Arbeit aufgenommen. Die älteren Polen in Berlin seien aber oft aus ihren familiären Zusammenhängen gerissen und vereinsamt. Isolation und psychische Probleme seien eine Folge: „Sie haben sich selbst abgeschrieben“, sagt Kaminski.

Alte Migranten haben noch ein anderes Problem. Sie fallen leicht durch die Informations- und Vermittlungsraster des Gesundheitssystems. Zu sprachlichen Problemen kommt die unzureichende Information über Pflegeeinrichtungen und gesetzliche Finanzierungsregelungen. Mehmet Gökcek, ein Kurde aus der Osttürkei, ist 57 Jahre alt und ein gebrochener Mann. 1994 fiel bei einem Arbeitsunfall ein Maschinenteil auf ihn. Trotz Asthma, geringer Hörfähigkeit, Bandscheibenvorfall, Magenentzündung und beginnender Demenz kämpft er noch immer um Rentenansprüche.

Auch Mehmet Gökcek hatte nicht geplant, in Berlin alt zu werden. „Wegen der Altersversorgung kann ich mir nicht zumuten, in der Türkei alt zu werden.“ Wenn er einmal pflegebedürftig ist, wünscht er sich türkische Pflege – in Berlin. Begraben werden will er aber in der Türkei, in der Heimat. 80 Prozent ihrer Patienten haben noch den Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren, sagt Nare Yesilyurt Karakurt von Deta-Med. Für die meisten erfüllt sich dieser Wunsch erst nach dem Tod: Nur zwei von hundert sind hier beerdigt.

Dorothee Schmidt

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