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Türkischer Mittelstand

© Oliver Wolff

Türkischer Mittelstand in Berlin: Nur die Glatzen stören das Idyll

Die Erdogans sind nach Rudow gezogen auf der Suche nach Ruhe und guten Schulen. Die Probleme Neuköllns lassen sie aber nicht los.

Im Nachbargarten weht eine Deutschlandflagge. Zur Europameisterschaft? „Nein“, sagt Kazim Erdogan, „die ist da immer.“ Manchmal habe er sich schon überlegt, die türkische Fahne an den eigenen Balkon zu hängen. Aber dann hat er es doch gelassen. Mit Nationalismus haben die Erdogans nichts zu schaffen und zu sehr auffallen wollen sie hier in Rudow auch nicht, wo jeder die Hecken akkurat schneidet, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Die Erdogans, der 54-jährige Vater Kazim, die 45-jährige Mutter Gülüsan, die 18-jährige Dilan und die 15-jährige Yonca, sind eine deutsche Familie mit türkischen Wurzeln. Kazim kam vor 34 Jahren als Student nach Berlin, Gülüsan als Tochter eines Gastarbeiters. Die beiden haben sich angestrengt, viel gearbeitet und gehören heute zum Mittelstand. Weil sie wollen, dass ihre Töchter auf gute Schulen gehen und weil sie sich nach Ruhe sehnten, sind sie vor 14 Jahren vom Hermannplatz nach Rudow gezogen. Sie haben sich verschuldet und ein Einfamilienhaus mit kleinem Garten gekauft. So wie immer mehr türkischstämmige Mittelstandsfamilien, die sich in Rudow und Britz niederlassen. „Es gibt eine richtige Wanderungsbewegung aus dem Norden Neuköllns in den Süden“, sagt Kazim Erdogan. Von „Hunderten“ weiß Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Die Umzügler sind die Familien, die sich Politiker und Unternehmer wünschen: Sie fühlen sich in Deutschland zu Hause, fallen nicht auf, sind fleißig. Sie sind angekommen im deutschen Einfamilienhausidyll. Und doch ist das Idyll immer bedroht.

Nur ein paar Straßen weiter von den Erdogans wohnt die Familie Yildirim. Rechtsradikale Jugendliche haben im April einen Pavillon in ihrem Garten in Brand gesteckt, gleich um die Ecke ist das Haus einer bosnischen Familie, die im März attackiert wurde. Kazim Erdogan haben die Anschläge nicht überrascht.

Der kleine, schlanke Mann mit spitz zulaufendem Gesicht und grauen Stoppelhaaren läuft auf dem Weg zum U-Bahnhof Rudow fast jeden Tag an der Rudower „Spinne“ vorbei und an der Imbissbude, wo sich die Neonazis treffen. Etwa 40 Jugendliche seien das, sagt Erdogan, die da mit ihren Glatzen und Bierflaschen rumstehen. Einige würden in Gropiusstadt wohnen, einige in der Rudower Nachbarschaft, ein paar gehen auf die Oberschule seiner Töchter. Bislang habe er sich aber nicht bedroht gefühlt, Dilan und Yolcan seien auch noch nicht angepöbelt worden. Aber nun sei „so eine Unsicherheit da“. Seinen Töchtern rät der Vater, die Straßenseite zu wechseln, wenn sie aus dem U-Bahnhof kommen.

Den Rechtsradikalen passe es nicht, wenn sich auf einmal Migranten hier ansiedeln. Die dachten immer, Rudow und Britz sei ihr Paradies, vermutet Erdogan. Wenn sie nun sehen, dass immer mehr Türken hier Grundstücke kaufen und Häuser bauen, „kriegen die Panik“. Dabei würden die gar keine türkischstämmigen Familien kennen. Sonst würden sie auch merken, dass sich deren Leben kaum von dem der anderen deutschen Nachbarn unterscheidet. Außer vielleicht, dass bei den Erdogans an diesem Nachmittag tulpenförmige Gläschen auf dem Terrassentisch stehen statt Porzellantassen und dass Gülüsan Erdogan schwarzen Tee statt Kaffee einschenkt. Der Rasen im Garten ist genauso kurz gemäht wie der nebenan, die Rosensträucher blühen genauso rot. Kazim Erdogan ist keiner, der dasitzen kann und abwartet. Neben dem Soziologie- und Psychologiestudium hat er bei Quelle Kühlschränke geschleppt und bei Wienerwald Hähnchen verkauft. Danach hat er als Lehrer und als Psychologe im schulpsychologischen Dienst in Schöneberg sein Geld verdient. Heute ist er im Rathaus Neukölln beim psychosozialen Dienst angestellt und kümmert sich um die Probleme von Einwandererfamilien. Aber das ist nur die offizielle Seite seines Berufslebens.

„Wenn Probleme da sind, muss man die Steine aus dem Weg räumen“, sagt er. Und so leitet er jede Woche ehrenamtlich eine Gruppe, in denen er türkisch- und arabischstämmigen Männern beibringt, dass man Konflikte lösen kann, ohne zu schlagen oder zu trinken. Er organisiert die jährliche „Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln“ und hat die „Initiative für ein besseres Neukölln“ ins Leben gerufen. Dass sich Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) in der vergangenen Woche in Rotterdam Anregungen geholt hat, wie man Neukölln voranbringen kann, findet er gut. Gerne würde er von den Niederländern lernen, wie man enger von Behörde zu Behörde zusammenarbeitet oder wie man konsequenter mit Schulschwänzern umgeht. Wegschauen sei keine Lösung.

„Mein Mann arbeitet eigentlich immer“, sagt Gülüsan Erdogan und lächelt ihm zu. „Ach Gülsanchen“, antwortet der liebevoll. Sie wollte nie einen Machomann haben, der sie bevormundet, sondern genau so einen wie Kazim, sanft, verständnisvoll, einer, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen kann. Gülüsan Erdogan ist gelernte Einzelhandelskauffrau, hat sich zur Erzieherin fortgebildet, in einer Zufluchtswohnung für bedrohte Mädchen gearbeitet, einen Kiosk geleitet. Jetzt ist sie vor allem für ihre Töchter da.

„In der Schule gehen alle davon aus, dass meine Mutter Kopftuch trägt, wenn sie meinen Namen hören“, sagt Dilan. Das würde Gülüsan aber nie in den Sinn kommen. Sie streicht sich durch die schwarzen, gelockten Haare. Zur Jeans trägt sie an diesem Tag ein weit ausgeschnittenes T-Shirt. Sie wünscht sich, dass ihre Töchter ein selbstbestimmtes Leben führen und auf eigenen Beinen stehen können. Irgendwann sei klar gewesen, dass sie sich mit all dem, was für sie wichtig ist, mehr in Deutschland als in der Türkei zu Hause fühlen, sagt Gülüsan. Klar war auch, dass das Zuhause nicht in Neukölln oder Kreuzberg ist, sondern dort, wo es gute Schulen gibt, in denen die Mädchen viel lernen und aufs Studium vorbereitet werden.

Dilan, graue enge Jeans, schwarzes T-Shirt, hat noch ein Jahr bis zum Abitur und möchte später in einem sozialen Beruf arbeiten. Ihre kleinere Schwester zieht es ins Ausland, vielleicht ein Studienjahr in England oder Istanbul, Business, Management. „International durchstarten“, sagt sie. Rudow wird ihr wohl bald zu klein werden.

Die Rechten? Die Glatzen? „Nerven“, sagen die jungen Frauen. Vater Kazim engagiert sich im runden Tisch in Rudow, einem Zusammenschluss von Anwohnern, Gewerbetreibenden, Pfarrern und Vertretern politischer Parteien. Sie haben Diskussionen und Kundgebungen gegen rechts organisiert. Genutzt hat es nicht viel. „Die reden nicht mit uns“, sagt Erdogan. Dennoch müsse etwas passieren, Rudow bekomme sonst ein schlechtes Image. „Wir werden es nicht zulassen, dass eine Handvoll Rechter ein ganzes Viertel durcheinanderbringt.“

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