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Direkt gewählt. Gunnar Lindemann aus Marzahn-Hellersdorf sitzt für die AfD im Abgeordnetenhaus.

© Jens Jeske/Imago

Tumulte bei Holocaust-Gedenken in Berlin-Marzahn: AfD-Abgeordneter erfindet Schändung von Gräbern

Die Tumulte beim Holocaust-Gedenken in Marzahn ziehen Kreise – auch wegen der AfD. Und der Falschbehauptung eines ihrer Abgeordneten.

Der Kampf um die Deutungshoheit begann, da war das von Tumulten begleitete Gedenken zu Ehren von Holocaust-Opfern auf dem Marzahner Parkfriedhof kaum beendet. Die Gedenkstele im Rücken, postierte sich Gunnar Lindemann, in Marzahn-Hellersdorf direkt gewähltes Mitglied der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, vor der Kamera eines Mitarbeiters der Fraktion. Während der Kameramann als Stichwortgeber agierte, bezeichnete Lindemann Teilnehmer einer gegen die Beteiligung der AfD am Gedenken gerichteten Demonstration als „Linksextreme“ und bezeichnete deren Proteste als „widerwärtig“.

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Besonders großes Empörungspotenzial besitzt eine Behauptung, die Lindemann beinahe beiläufig in sein Statement einbaute: „Mittlerweile trampeln die Antifa-Leute auf den Gräbern des Friedhofs herum“, sagte der Politiker in die Kamera. Wohlwissend, dass dieser Vorwurf am Rande eines Gedenkens zu Ehren von im Holocaust ermordeten Menschen besonders schwer wiegt – und Emotionen schürt.

AfD-Video wurde zehntausendfach geklickt

Nachdem der Clip im Internet veröffentlicht worden war, sammelte er schnell mehrere zehntausend Klicks. Auf Twitter war sogar von jüdischen Gräbern die Rede, auf denen Menschen gestanden hätten – und das zwei Tage vor dem internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar.

Die Wahrheit ist: Die vermeintlichen Grabschändungen sind frei erfunden. Nachdem Augenzeugen der Darstellung Lindemanns widersprochen hatten, dementierte auf Tagesspiegel-Nachfrage auch die Friedhofsleiterin dessen Aussagen. Sie war zum Zeitpunkt des Gedenkens selbst vor Ort, beobachte die Szenerie aus sicherer Entfernung. Ihre Einschätzung: „Es stand niemand auf Kriegsgräberflächen.“

Die Polizei sperrte den Parkfriedhof so ab, dass die Demonstranten nicht zur Kranzniederlegung kamen.
Die Polizei sperrte den Parkfriedhof so ab, dass die Demonstranten nicht zur Kranzniederlegung kamen.

© Robert Kiesel

Zur sich verselbstständigen Version der betretenen jüdischen Gräbern sagte sie: „Der Parkfriedhof hat keine jüdischen Gräber.“ Auch aus dem Bezirksamt hieß es: Unter der Grünfläche, auf der sich die Demonstranten sammelten, befinden sich keine Grabstellen.

Damit ist klar: Lindemann, Mitglied einer Partei, die mit dem Slogan „Mut zur Wahrheit“ für sich wirbt, nimmt es mit dieser selbst nicht so genau. Anscheinend gezielt platzierte er die Falschaussage in seinem Videostatement – wohlwissend, dass eine Überprüfung der Vorkommnisse für Außenstehende kaum möglich ist.

Lindemann hält an seiner Aussage fest

Die Aussagen von Bezirksamt und Friedhofsleiterin wiederum durchkreuzen diesen Plan – auch wenn die Aussage Lindemanns in der eigenen Filterblase längst auf fruchtbaren Boden gefallen ist. In den sozialen Netzwerken wird das Video hundertfach geteilt und auch rechtsoffene Medien wie die Zeitung „Junge Freiheit“ tragen die Falschbehauptung weiter.

Lindemann ficht das nicht an. Auf Twitter bleibt er bei seiner Aussage, nennt Teilnehmer der Gegenproteste „Antifanten“ und wirft jenen, die seine Aussagen bestreiten, eine Sehschwäche vor.

Inzwischen scheint absehbar, dass die Vorgänge rund um die als „stilles Gedenken“ geplante Veranstaltung ein parlamentarisches Nachspiel haben werden. Nach der Grünen-Bundestagsabgeordneten Canan Bayram forderte auch Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau (Linke) die Mitglieder des Innenausschusses im Abgeordnetenhaus auf, sich mit den Vorkommnissen auseinanderzusetzen.

Pau kritisierte den Einsatz von Polizeihunden auf dem Friedhof als „völlig unangebracht“. Um Zusammenstöße zu vermeiden, hatten Beamte Demonstranten, aber auch Veranstalter und Teilnehmer des Gedenkens am Betreten des Friedhofs gehindert und den Beginn der Veranstaltung so verzögert. Weil auch Angehörige und Hinterbliebene von Holocaust-Opfern nicht an der Gedenkveranstaltung hatten teilnehmen können, gab es massive Kritik.

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