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Tote? Tanzen! 2011 wurde ein ehemaliger Friedhof in Prenzlauer Berg zum Leise-Park. Der inspirierte auch die Künstler von "Entretempo Kitchen Gallery", hier 2014 bei der Tagesspiegel-Aktion "Saubere Sache", zum Sich-Kümmern und Gestalten.

© Thilo Rückeis

Umnutzung von Friedhöfen: Das Leben kehrt zurück

Der Trend geht zur Urne und zur Bestattung außerhalb: Trotz Bevölkerungswachstum sinkt der Bedarf an Grabfläche. Was wird da aus Berlins 179 Friedhöfen? Auf ehemaligen Gräberfeldern könnten Häuser wachsen. Erste Bewohner sind schon da.

Eine Karte der Welt und eine zweite, die den Kontinent Afrika zeigt, hängen an der Wand. In dem rosa Haus am Rand des Kreuzberger Jerusalem-Kirchhofs, der zu dem Riesenkomplex von vier Friedhöfen an der Bergmannstraße gehört, sitzen zwei Männer aus Afrika mit ihrer Lehrerin am Tisch und büffeln Deutsch. Zur Einrichtung des kleinen Raumes gehören eine grüne Tafel, auf der „Bruder Schwester Geschwister“ geschrieben steht, eine Uhr, ein BVG-Plan. Partygirlanden hängen über den Fenstern, an den Decken klaffen Löcher, die Heizung bullert warm. Nebenan geht es zu abgewrackten Waschräumen. An vier Wochentagen findet hier Unterricht statt, morgens vor dem Start gibt es ein gemeinsames Frühstück.

Früher diente das Gebäude Friedhofsarbeitern zum Aufenthalt. Vor einem Jahr haben hier 18 Lampedusa-Flüchtlinge, die zuvor am Oranienplatz campierten, mit dem Lernen begonnen. In dem rosa Haus bestehen mittlerweile zwei Klassen für 38 Schüler, die von acht Lehrern in Deutsch, Mathe, Gesellschaftskunde unterrichtet werden; verstärkt durch weitere ehrenamtliche Helfer und Hausaufgabenassistenten. Koordiniert wird das Helferteam von einem Gemeindemitglied der Kreuzberger Pfarrei Heiligkreuz-Passion. 18 Schüler wohnen gleich am anderen Ende der Friedhofsstadt, in einem Haus auf „Dreifaltigkeit II“, 15 weitere sind in einem Friedhofsgebäude in Wedding untergebracht. Das Projekt Flüchtlingshilfe bringt offensichtlich neues Leben auch auf die Friedhöfe. Und eine grundsätzliche Frage auf die Agenda: Wieviel Raum dürfen dort, wo es den Lebenden, nicht nur Flüchtlingen, immer mehr an Platz mangelt, die Toten für sich beanspruchen? Die letzten Ruhestätten – viele in bester Lage – wecken Begehrlichkeit: Hier ließe sich doch leben!

Pfarrer Jürgen Quandt hat 1983 als erster in Deutschland Flüchtlingsfamilien Kirchenasyl gewährt und seitdem ein bundesweites Netzwerk für Ausländerhilfe entwickelt. Vor einem Jahr trug er dazu bei, dass insgesamt 100 Flüchtlinge vom Oranienplatz in kirchlichen Häusern unterkamen. Der humanitäre Einsatz inspirierte schließlich die Lösungsidee für eine große Herausforderung, mit der Quandt als Geschäftsführer des Evangelischen Friedhofsverbandes Berlin Stadtmitte (EFBS) zu tun hat: die künftige Nutzung der 47 evangelischen Friedhöfe Berlins, von deren Liegenschaften mittelfristig 40 Prozent zu Grünanlagen oder Bauland umgewidmet werden sollen. So jedenfalls empfahl es 2006 der Friedhofsentwicklungsplan (FEP) des Senats – da sich alte Bedarfsprognosen aufgrund sinkender Sterblichkeitsraten (pro 1000 Einwohner 1970 = 18,1 Prozent = 58 034; 2002 = 9,87 % = 33 492) und einer stetig wachsenden Zahl platzsparender Urnenbestattungen (1950: unter 50 %; 2012: knapp 80 %) erledigt hatten. Die kolossale Aufgabe besteht seitdem darin, riesige innerstädtische Flächen auf dem Weg langwieriger verwaltungsrechtlicher Prozeduren zu entwidmen. Ein Herkulesprojekt, das fast alle landeseigenen und konfessionellen Friedhofsträger der Stadt betrifft: Von 1037 Hektar auf insgesamt 179 Friedhöfen werde man, so wurde 2006 prognostiziert, für Bestattungen künftig nur noch 747 Hektar benötigen. Inzwischen meint Pfarrer Quandt sogar, er müsse nicht nur für 40, sondern für knapp 60 Prozent seiner Flächen eine andere Zweckbestimmung finden.

Flüchtlinge auf dem Friedhof - ist das die Zukunft?

Noch sieht das ehemalige „Warteraum“-Gebäude des Dreifaltigkeitskirchhofs II, wo derzeit auf 120 Quadratmetern 18 Flüchtlinge in vier Zimmern hausen, nicht wirklich wie ein Zukunftsprojekt aus. Der Ziegelbau neben einer unbenutzten Kapelle dient als Zwischenort zur Eingewöhnung, ein Provisorium. Im Eingangsraum ein Kicker, vor den Schlafgemächern Laken als Vorhänge. Ibrahim aus dem Niger begrüßt die Besucher freundlich mit der Hand auf der Brust, Ibrahim aus dem Tschad wischt gerade die Küche.

„In einem Jahr ist uns gelungen, diese Männer zu emanzipieren“, sagt die Projektkoordinatorin Marita Lessny. „Mittlerweile können alle kochen und putzen, ohne dass wir uns groß einmischen, sie finden es selbstverständlich.“ Die Flüchtlinge haben Freunde in der Stadt gefunden. Anfängliche Irritation wegen des ungewöhnlichen Wohnortes – „wo bringst du uns hin?“ – hätten sich schnell gelegt, sagt Pfarrer Quandt. Fast alle in der Wohngruppe sind Muslime, haben ihren Gebetsteppich, nehmen teil am Freitagsgebet. Manchmal, zu islamischen Festen, kommt ein Berater von der Şehitlik-Moschee. Den größten Integrationseinsatz leisten jedoch Pfarreimitglieder von Heilig Kreuz-Passion: 500.000 Spenden-Euro haben sie in einem Jahr für das Lern- und Beherbergungsprojekt ihrer Friedhofs-Asylanten zusammengetragen, ein Zuschuss vom Kirchenkreis inklusive.

So wurde das Notquartier im „Warteraum“ zum Probelauf: bei einer Entwicklung langfristiger Pläne für Flüchtlingsquartiere auf Friedhöfen. „Langfristig“ darf man nicht überhören: In der Friedhofswelt braucht alles seine Zeit, von jetzt auf gleich passiert nichts: „Geschlossene“ Flächen, auf denen keiner mehr unter die Erde kommt, bleiben noch 20 Jahre lang für Besucher zugänglich. Erst nach zehn weiteren Jahren ist die „Entwidmung“ inklusive Räumung der Grabstellen abgeschlossen.

Bei der Umwidmung geht es Pfarrer Quandt um Pietät und Ökonomie: Auf einem vormaligen Reserveareal des St. Simeon-St. Lukas-Friedhofs am Tempelhofer Weg in Neukölln ist 2014 ein Supermarkt gebaut worden; auf ehemaligen Bestattungsflächen desselben Friedhofs an der Andreasberger Straße wird gerade die Baugrube für ein Mehrgenerationenwohnprojekt ausgehoben. Die zahlreichen dort ausgebaggerten Gebeine werden, so sieht es der Vertrag mit dem Investor vor, nahebei würdig bestattet. Zuvor schon, 2011, war in Prenzlauer Berg nach dem Verkauf von Terrain des ehemaligen Friedhofs St. Marien-St. Nicolai ans Land Berlin der Leise-Park an der Heinrich-Roller-Straße entstanden, zu dessen verwildertem Stil auch die Sichtbarkeit alter Grabanlagen gehört. Auf einem anderen entwidmeten Streifen dieses Friedhofs, an der Prenzlauer Allee, wurden Eigentumswohnungen gebaut.

Neue Nachbarn I. In einem Haus am Rande des Kreuzberger Jerusalem-Kirchhofs (rechts), das früher Friedhofsarbeitern zum Aufenthalt diente, werden nun Flüchtlinge unterrichtet.
Neue Nachbarn I. In einem Haus am Rande des Kreuzberger Jerusalem-Kirchhofs (rechts), das früher Friedhofsarbeitern zum Aufenthalt diente, werden nun Flüchtlinge unterrichtet.

© Doris Spiekermann-Klaas

Allerdings bevorzuge die Kirche Mischbebauung und erschwingliche Wohnungen, heißt es beim Friedhofsverband. Einer Gesinnungsprüfung müssen sich Käufer nicht unterziehen, aber sittenwidrige Nachnutzung – für Spielhallen oder Bordelle – will man verhindern. Baugruppen mit Kollektiv-Touch und Inklusionsprojekte sowie Veräußerungen unter dem Erbbaurecht, wofür kein Eigenkapital benötigt wird, möchte man bevorzugen. Zugleich benötigt der EFBS dringend alle Erlöse: nicht zuletzt, um mit diesen Geldern seine Grünflächen und ein riesiges Erbe an historisch wertvollen, oft denkmalgeschützten Grabanlagen zu erhalten. Die konfessionellen Träger erwarten für solche Dienstleistungen, die Pflege von Kulturgütern, eigentlich finanzielle Unterstützung vom Staat. Derzeit verhandelt der Friedhofsverband darüber mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.

Das Flüchtlingskonzept des Verbandes, das gemeinsam mit der Entwicklungsgesellschaft Stattbau erarbeitet wurde, sieht derweil den Bau von Fertighaussiedlungen in Modultechnik vor, zunächst für bis zu 120 Bewohner, aufgeteilt in WG- oder Familieneinheiten für jeweils fünf bis sieben Personen – preiswerter Wohnraum für eine Mischnutzung durch Flüchtlinge, Künstler, Studenten und Behinderte. Der EFBS wird bei diesem Plan von der Landeskirche, der Behörde des Sozialsenators und, zurückhaltend, von den Bezirken unterstützt. Bauanträge für zwei Siedlungen an der Hermannstraße in Neukölln (Friedhof Jerusalem V) und an der Jüterboger Straße in Kreuzberg (Friedrichswerder-Friedhof) sollen Anfang 2016 auf dem Tisch liegen. Ende 2016 sollen die Wohnungen bezugsfertig sein. Dann werden die Siedlungen an Diakonische Werke als Betreiber vermietet. Für zwölf weitere entwidmete Friedhofsstandorte sucht der EFBS Investoren und gemeinnützige Betreiber.

Mehr Platz für Muslime

Schrumpfen als Chance. Pfarrer Jürgen Quandt ist Herr über Berlins evangelische Friedhöfe. Er sagt: "Die Toten dürfen nicht mehr Platz haben als die Lebenden."
Schrumpfen als Chance. Pfarrer Jürgen Quandt ist Herr über Berlins evangelische Friedhöfe. Er sagt: "Die Toten dürfen nicht mehr Platz haben als die Lebenden."

© Kitty Kleist-Heinrich

Läge es aber nicht auch nahe, Kirchhofflächen, die künftig nicht mehr benötigt werden, muslimischen Gemeinden als Ruhestätten anzubieten? Gerade den Muslimen fehlt Friedhofsraum, und Urnenbestattung ist für sie aus religiösen Gründen keine Option. Muhammad Asif Sadiq von der Ahmadiyya-Khadija-Moschee hätte gegen eine derartige Umwandlung nichts einzuwenden. Obwohl viele Migranten sich postum in ihr Herkunftsland überführen lassen – ein Grund dafür, dass die Zahlen von Todesfällen und Bestattungen in Berlin immer weiter auseinandergehen –, sei der muslimische Friedhof am Columbiadamm fast voll belegt, sagt Sadiq. Der in Gatow sei weit vom Zentrum entfernt. Es gebe zwar Menschen, die damit Probleme hätten, „dass vorher ein Christ an der gleichen Stelle gelegen hat“: Man könne aber nicht immer auf solche Vorbehalte Rücksicht nehmen. Bei der Übernahme müsse allerdings auf die Ausrichtung muslimischer Grabstätten geachtet werden: „das Gesicht rechtsliegend nach Mekka orientiert, die Füße nach Nordosten, der Kopf nach Südwesten ausgerichtet“.

Obwohl auf den evangelischen Kirchhöfen St. Thomas und St. Jakobi (beide an der Hermannstraße) sowie auf Zwölf Apostel (Schöneberg) bereits für muslimische Bestattungen Teilstücke vorgesehen sind, sieht der EFBS in Anbetracht unterschiedlicher Bestattungsrituale perspektivisch nicht sich selbst als Träger integrierter Anlagen, sondern eher den jeweiligen Bezirk. Auch in der Friedhofsverwaltung von St. Hedwig, die für 30 Hektar, nämlich sechs der neun katholischen Friedhöfe Berlins zuständig ist, wurde die Herauslösung von Teilbereichen zugunsten muslimischer Grabflächen geprüft, allerdings von der Bistums-Rechtsabteilung wegen der fehlenden Möglichkeit einer Abtrennung für separate Zugänge wieder verworfen. Umwidmungsempfehlungen aus dem Friedhofsentwicklungsplan des Senats sind die Katholiken bisher kaum nachgekommen. Nur am Domfriedhof (Ollenhauerstraße) habe man einen „nicht pietätsbefangenen Streifen“, der zuvor als Parkplatz und für Verwaltungsbauten diente, für den Neubau eines Seniorenhauses benutzt, sagt Verwaltungsleiter Wolfgang Zett. Er stellt fest, dass neue Sparmodelle der Erdbestattung, die wenig Pflege benötigen, zunehmend wieder „gern angenommen werden, falls man nicht gleich sagt: Urnenbeisetzung“. Auf katholischen Friedhöfen im Osten liege das Verhältnis Urne zu Erdbestattung bei 70:30, im Westteil sei das Verhältnis umgekehrt.

Es braucht Reserveflächen - etwa für Katastrophenfälle

Marita Ambrosius verwaltet für den Bezirk Pankow als größtem Träger zwölf der 86 landeseigenen Friedhöfe – derzeit insgesamt 48 Hektar. Schon 1978, sagt sie, habe man in Pankow begonnen, Friedhöfe zu schließen, was heißt: dort keine Neubestattung mehr vorzunehmen. Mittlerweile seien Umwidmungen für Blankenfelde (zu Wildrasenfläche), Buch (zu Bucher Forst), Pankow (zu Schönholzer Heide) und Friedhof I (zum Teil des Bürgerparks mit einer Dokumentation zur Bestattungskultur) abgeschlossen. Zwei Friedhöfe ständen kurz davor, zwei seien erst 2004 und 2007 „geschlossen“ worden, das dauert also noch. Manche geschlossenen Teilflächen habe man habe zwischenzeitlich wieder geöffnet, auch, um „gewissen Veränderungen in der Bestattungskultur“ gerecht werden zu können, zum Beispiel dem Wunsch nach einem Baum als Grabstelle.

Neue Nachbarn II. Auf einer nicht mehr benötigten Reservefläche des St. Simeon und St. Lukas-Friedhofs in Britz entstand 2014 ein Supermarkt.
Neue Nachbarn II. Auf einer nicht mehr benötigten Reservefläche des St. Simeon und St. Lukas-Friedhofs in Britz entstand 2014 ein Supermarkt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Den FEP 2006 sieht Marita Ambrosius heute eher kritisch. Die Bezirke waren den Empfehlungen des Friedhofskonzepts seinerzeit weitgehend gefolgt, da sie behördlich über Personal und Budget zur Pflege stillgelegter Flächen verfügen, während die konfessionellen Träger mit Schließungen lieber warten, bis die Nachnutzung ökonomisch gesichert ist. Heute habe man erkannt, sagt die Verwaltungsfrau, dass ein geschlossener Friedhof zwar keine Einnahmen mehr bringt, aber doch 20 Jahre lang weiter als Friedhof unterhalten werden muss, was weiter Kosten verursacht. Der Plan von 2006 sei damals durch eine Fremdfirma erstellt und bald von der Zeit überholt worden, man müsse „viel schneller reagieren“.

Wer daraufhin bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung nachfragt, ob FEP-Vorgaben aufgrund aktueller Bevölkerungszuwächse angepasst werden müssen, bekommt zu hören: Trotz der wachsenden Bevölkerung gehen Bestattungszahlen weiter zurück – natürlich auch, weil zurzeit vor allem junge Menschen nach Berlin kommen. Ausweiten werde man die Umwidmungsempfehlung von 2006 nicht. Es sei notwendig, Reserveflächen vorzuhalten.

Andere Anpassungsbereitschaft zeigt sich aber bereits auf Bundesebene. So erlaubt seit 2014 eine Änderung des Bundesbaugesetzes erstmals, Flüchtlingsheime in Nichtbaugebieten zu errichten, dazu rechnet man grundsätzlich auch Friedhöfe. „Das kommt uns entgegen, so ist keine langwierige Umwidmung zu Bauland erforderlich“, sagt Jürgen Quandt. „Kompliziert wird es allerdings dadurch wieder, dass wir Flüchtlinge auch zu Integrationszwecken mit Anderen gemeinsam dort unterbringen wollen.“ Die Umwidmung des Geländes – bei jüdischen oder muslimischen Friedhöfen aufgrund anderer Traditionen undenkbar – hält der Pfarrer für vertretbar. „Zu allen Zeiten sind Friedhöfe entstanden und wieder verschwunden“, sagt Quandt. „Es kann nicht sein, dass die Toten mehr Platz bekommen als die Lebenden.“

Mit dem Nachnutzungskonzept stehen Berlin und Deutschland im Globalvergleich übrigens ziemlich allein. In London, wo die Friedhofskapazität 2045 erschöpft sein soll, hat man erst vor kurzem begonnen, Gräber, die älter als 75 Jahre sind, neu zu belegen. In Hongkong zahlt man 30.000 Dollar für ein Privatgrab, wartet fünf Jahre auf einen Mini-Urnenplatz im öffentlichen Columbarium oder ergattert eine Nische auf „floating eternity“, der Insel für 370.000 Urnen. In Japan errichten Konzerne Betriebsfriedhöfe. In Brasiliens Memorial Necrópole Ecumênica, in Bogota und Mumbai wachsen letzte Behausungen über viele Stockwerke in die Höhe und in die Tiefe.

Dagegen präsentiert sich Berlins Nekropolis weitläufig, verwildert. Auf dem Neuköllner Emmaus-Friedhof stapft der Flaneur vorbei an gedrängten Reihen eng gesetzter Urnengräber, durch Gestrüppfelder und Gehölz, denen niemand mehr ansieht, dass hier vor Jahrzehnten Beerdigungen stattfanden. Auf vielen Ruhestätten stehen Schilder, die Angehörige auffordern, sich wegen ablaufender Fristen im Büro zu melden. „Nicht verloren, nur vorausgegangen“, steht auf einem Stein, auf einem anderen: „Begrenzt ist das Leben, unendlich die Erinnerung“. Ganze Gräberfelder sind vom Herbstlaub überdeckt. Wer Berlins verfallene Totenstadt besucht, durchwandert einen Kontinent schwindender Erinnerung.

Dieser Text erschien zunächst gedruckt in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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