zum Hauptinhalt
Umstritten: Ursula Sarrazin.

© Thilo Rückeis

Umstrittene Lehrerin: Ursula Sarrazin, die Anklägerin

Ursula Sarrazin galt als umstrittenste Lehrerin im Land. Viele glauben, sich von ihr ein Bild machen zu können. Am Montag erscheint ihr Buch: eine Abrechnung mit Berlins Schullandschaft. Meint sie das wirklich alles ernst? Zeit für ein Gespräch.

Sie stutzt. Hat sie das geschrieben? Sie guckt in ihrem Exemplar nach, das sie mitgebracht hat in ein Café am U-Bahnhof Neu-Westend. Ursula Sarrazin hat einige Buchseiten mit bunten Klebestreifen markiert. Auf Seite 271 hat sie nichts eingeklebt, dort stehen die Worte: „Drahtzieher“ und „Vernichtung“. Als sie die Stelle findet, sagt die Frau des ehemaligen Bundesbank-Vorstands und Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin, gelassen: „Als Lehrerin bin ich vernichtet worden.“

Das ist der Ton, um den es hier geht. Leise vorgetragen, aber unerbittlich in seiner Botschaft.

Die Lehrerin Ursula Sarrazin existiert nicht mehr, so sieht sie es, offiziell ist sie seit Ende des Schuljahres 2010/2011 auf eigenen Antrag beurlaubt. Aber die Frau, 60, die diesen Beruf 30 Jahre lang mit „Begeisterung“ ausgeübt hat, wie sie sagt, hat dieses Kapitel ihres Lebens noch nicht abgeschlossen.

Deshalb hat sie ein Buch geschrieben, 288 Seiten dick, „Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin.“ Ein „Tatsachenbericht“, wie sie es nennt. Es erscheint an diesem Montag, und es ist ein wichtiger Teil von Ursula Sarrazins Mission, ihren guten Ruf wiederherzustellen. Auch deshalb ist sie hierher gekommen, ins „Wiener Café“, eine Institution schon zu West-Berliner-Zeiten. Hier, nahe ihrem Haus und ihrer Schule, an der sie zuletzt unterrichtet hat, ist das Leben immer ein langer, ruhiger Fluss gewesen. Erschütterungen finden normalerweise jenseits dieses bürgerlichen Kiezes statt, aber das Buch, das sie geschrieben hat, ist eine einzige Erschütterung.

Die Geschichte über Ursula Sarrazin und das Berliner Schulleben ist verworren. Wer sie verstehen will, wird sich verirren. Sie ist überlagert von Vorurteilen und Halbwahrheiten, Missgunst und Überheblichkeit. Und die gegenseitigen Vorwürfe sind erniedrigend. Gesunder Menschenverstand, Mäßigung spielen keine Rolle.

Nebenberuf Bestsellerautor: Sarrazin und Co.:

Sie kommt allein und zu Fuß. In den drei Stunden, die das Gespräch dauert, bewahrt sie Haltung, beantwortet alle Fragen offen. Manchmal, wenn sie lacht, sieht sie aus wie ein junges Mädchen. Sie hat Sommersprossen, strahlt keine Kälte aus und redet nie verbissen. Ursula Sarrazin hat sich im Griff, denn es geht ihr um das Große und Ganze, um ihre Reinwaschung.

Den Fall Sarrazin, der zeitweise alle wichtigen Zeitungen und Magazine des Landes beschäftigte, sogar Talk-Shows, hätte es ohne Thilo Sarrazins Arbeit als Finanzsenator und ohne sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ wohl nie gegeben. Landauf, landab wurde 2011 über „Deutschlands umstrittenste Lehrerin“ berichtet, wie die „Bild“-Zeitung schrieb. Seit 2008 waren immer wieder ähnlich lautende Vorwürfe zu lesen: Sarrazin schreie Schüler an, bringe sie zum Weinen, beleidige ausländische Schüler, verbiete Kindern zur Toilette zu gehen, habe ein Kind geschlagen. Sie sei zu streng, benote zu hart, habe ein Kind unrechtmäßig zurückversetzt. Eltern beschwerten sich massiv, schrieben Briefe, Dienstaufsichtsbeschwerden wurden formuliert, schließlich wurde „roter Filz“ vermutet, weil der Schulsenator und der prominente Ehemann der SPD angehörten und statt ihrer ein Schulrat versetzt worden war.

Der Fall Sarrazin ist kein Einzelfall.

Ursula Sarrazin; fotografiert in ihrem Garten im Westend von Berlin-Charlottenburg.
Ursula Sarrazin; fotografiert in ihrem Garten im Westend von Berlin-Charlottenburg.

© Thilo Rückeis

Dabei sind fast alle Vorwürfe Alltag im Schulleben. Die Schulbehörde selbst hat das so formuliert: Der Fall Sarrazin sei kein Einzelfall. Pro Jahr gebe es mehr als 1000 Elternbeschwerden. Dieser Fall eskalierte, als Ursula Sarrazin öffentlich erklärt, das Mobbing gegen sie gehe allein von türkisch- und arabischstämmigen Eltern aus. Da war das Buch des Mannes mit den umstrittenen Thesen zu eben jenen Einwanderern schon erschienen. Wurde die brave Beamtin nicht auch als willkommene Kronzeugin pädagogischer Grabenkämpfer missbraucht?

Böse Lehrerin, gute Lehrerin – eine simple Frontstellung. Andererseits: Kann es wahr sein, dass eine Lehrerin ständig in die absurdesten Probleme verwickelt wird,und immer sind die anderen schuld?

Sie lacht, sie kennt die Frage schon: „Ich verstehe, dass man das nicht glauben kann. Aber es ist die Wahrheit.“

Wahrheit ist ein großer Begriff. Es fällt auf, wenn man das Buch liest und ihr zuhört, dass es immer ins Grundsätzliche geht. Sie selbst definiert Maßstäbe, die anderen müssen sich daran messen lassen. Beispielsweise schreibt sie: „ … ein Lehrer … ist eingebunden nicht nur in ein Geflecht von Vorschriften und Weisungen, sondern ist auch sehr auf das verständige Wohlwollen und die Sachkenntnis seiner Vorgesetzten angewiesen. Nur in einem solchen Rahmen kann er pädagogisch erfolgreich wirken.“

Aber diesen Rahmen hat Ursula Sarrazin in Berlin nie vorgefunden. Sagt sie.

Thilo Sarrazin, seine Frau, sein Buch:

Und so handelt das Buch nur am Rande von den grundsätzlichen Problemen im Schulalltag, wobei die Ausführungen dazu spannend sind (siehe Kasten unten). Das Buch ist eine akribisch ausgearbeitete Verteidigungs- und Anklageschrift. Nichts soll hängen bleiben an ihr. Es wimmelt nur so von scharfen Vorwürfen und harten Urteilen über andere: Lehrer, Vorgesetzte, die Verwaltung, Berlin. Sie werden zu einer imaginären Struktur verwoben, die allein dazu diente, sie auszuschalten. Selbst wenn Ursula Sarrazin beteuert, dass sie das nicht behaupten wollte, der Eindruck bleibt.

Vielleicht ist das Grundproblem an der Auseinandersetzung die gegenseitige Überhöhung der Ereignisse. Jedenfalls lautet Sarrazins Kernaussage im Buch: „Die Willkür, die ich am eigenen Leibe erfahren habe, ist in den Strukturen dieser Verwaltung eher die Regel als die Ausnahme. Bekäme ich recht, würde das ganze schuldhafte Handeln von Führungskräften offenbar. So fürchtet man anscheinend, dass die Autorität dieser Verwaltung generell in Frage gestellt wird... Die Leidtragenden sind nicht nur die Lehrer, es sind vor allem die Kinder.“

Ursula Sarrazin hat in Bonn, Köln und Mainz unterrichtet, aber das Schulklima sei „nirgendwo so wirklichkeitsabgewandt und unehrlich“ wie in Berlin. Sie beklagt eine allgemeine „leistungsabgewandte Grundhaltung“. Immer wieder stößt sie sich daran, überall lauern Intrigen, falsche Beschuldigungen, Neid. Sie sieht andere Lehrer, die sich bei ihren Schülern „anbiedern“ und Eltern, die geheime Treffen abhalten.

Versöhnung gibt es nicht, nur Verlierer.

Sie fragt im Buch: „In was für Kreise war ich geraten? Sie selbst stammt aus einer Familie, die sich den bürgerlichen Aufstieg erarbeitet hat. Der Vater, Ernst Breit, war ein angesehener Gewerkschaftsfunktionär, Vorsitzender des DGB, Präsident des Europäischen Gewerkschafts-Bundes. Die höhere Bildung ist ihr nicht in den Schoß gefallen. Sie wird in Schleswig-Holstein geboren, als sie acht Jahre ist, zieht ihre Familie nach Bonn, wo sie die Realschule besucht, bis ihre Lehrerin sie überredet, aufs Gymnasium zu gehen. Dort sind die Aufsteiger nicht willkommen. „Wir mussten uns hochkämpfen“, sie gehört zu der besten Abitursklasse. Bis heute hält sie den Kontakt zu ihrer Realschullehrerin.

Sie steht mit 22 Jahren vor ihrer ersten Klasse und zweifelt an sich, Sarrazin sagt: „Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich etwas bewirken und Schüler erziehen kann, um sie fit fürs Leben zu machen.“ Ihre Worte klingen nach Verantwortung. Und da ist auch Herzblut. Aber sie kann nur schwer vermitteln, dass sie es gut meint, weil sie es immer besser wissen will. Manches Gutgemeinte ist nicht immer das Richtige. Im „Wiener Café“ sitzt auch eine Frau, die mit ihren Prinzipien und ihrem antrainierten Selbstbewusstsein eine Zumutung sein kann.

Sie erzählt eine Episode aus Köln, wo sie eine schwierige Klasse unterrichtete. Rotlichtmilieu, auch Kinder mit Migrationshintergrund. Einige werfen mitten in einer Klassenarbeit eine Stinkbombe, dann wollen die Schüler die Fenster aufmachen. Sarrazin überlegt kurz und sagt, sie rieche nichts. Die Fenster bleiben geschlossen, die Schüler müssen die Arbeit weiterschreiben, ihr selbst wird fast übel. Hinterher informiert sie die Eltern. Sie sagt, sie werde die Arbeit nicht werten, wenn die Eltern versprechen, es nicht zu verraten. Bei der Zeugnisvergabe werde sie es den Kindern erklären. Die Eltern halten still, die Kinder werfen keine Stinkbomben mehr. So stellt sich Sarrazin „konsequente Pädagogik“ vor.

Nebenberuf Bestsellerautor: Sarrazin und Co.:

Dann sagt sie noch: „Wenn man sich mit einem Kind ehrlich beschäftigt, entdeckt man bei allen Liebenswürdigkeit.“ Zu Hause hat sie Bildbände von „meinen Kindern“, wie sie ihre Schüler nennt. Aber bei aller Zuneigung, sie hat selbst zwei Söhne, müsse sie als Lehrerin auch an ihren „pädagogischen Auftrag“ denken und Distanz wahren. In diesem Sinne will sie ihren Begriff von Disziplin verstanden wissen, positiv besetzt, als Rahmen, um Regeln aufzustellen, die allen helfen.

Unter Druck hält sich Ursula Sarrazin an ihren Prinzipien fest. Als der Streit um sie den Höhepunkt erreichte, war der Klassenraum ihr Rückzugsort. Dort hat sie Unterricht gemacht und alles andere ausgeblendet. Wenn die Kinder sie fragten, warum sie in der Zeitung steht, antwortete sie: „Wenn wir Unterricht machen, bleibt alles andere da draußen.“ Das Klassenzimmer war die Insel, auf der sie noch immer das tun konnte, was sie für richtig hielt.

Sie hätte sich krankmelden können, es gibt 1550 dauerkranke Lehrer in Berlin. „Aber ich war nicht krank. Das ist nicht mein Stil.“ In der Krise, wenn sie dachte, sie sei in einem Albtraum gefangen, hat sie auf ihren Schwiegervater gehört, der sagte: „Wenn man meint, man kann nicht mehr, hat man immer noch 40 Prozent.“

Sie führt ihren Kampf mit Eifer. Versöhnung gibt es nicht, nur Verlierer. Die juristischen Auseinandersetzungen gehen weiter, sagt sie, „ich werde alle Wege verfolgen, die mir helfen, dass das Unrecht gegen mich verfolgt und bestraft wird. Ich bin eine gute Lehrerin und habe mir nichts vorzuwerfen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false