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Wenn das Warten zur Gefahr wird, leiten Ärzte eine Geburt oft ein, auch mit dafür nicht zugelassenen Medikamenten.

© C. Seidel/dpa

Umstrittenes Wehenmittel Cytotec: Für die Geburtshilfe nicht zugelassen, aber häufig verwendet

14 von 19 Berliner Kliniken setzen Cytotec zur Geburtseinleitung ein. Es ist dafür nicht zugelassen, eine Gefahr für das Kind belegen die Zahlen aber nicht.

Cornelia Simon (Name geändert) erinnert sich an die Geburt ihres Sohnes vor einem Jahr „als die schlimmsten Stunden in meinem Leben“. Sie begannen damit, dass sich die 36-Jährige besorgt in eine Berliner Geburtsklinik begab. Ihre Schwangerschaft dauerte nun schon elf Tage länger als errechnet. „In der Klinik legte man mir nahe, die Geburt künstlich einzuleiten“, sagt Cornelia Simon.

Was gar nicht so selten ist. Jede fünfte Geburt in Deutschland werde eingeleitet, also rund 158.000 pro Jahr, sagt Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Geburtsmedizin am St. Joseph-Krankenhaus in Berlin– Tempelhof. Oft nutzen die Geburtsmediziner dafür eine Tablette namens Cytotec.

Die Ärzte hätten ihr das Medikament damals sehr nahegelegt, erinnert sich Cornelia Simon. „Man hat mir zwar die Alternativen genannt, aber auch gesagt, Cytotec sei das Beste für mich.“ Es sei leichter zu dosieren und besser einzunehmen als die Alternativen, die als Zäpfchen oder Gele über die Vagina verabreicht werden.

Am Abend kam das Kind gesund zur Welt

Cornelia Simon bekam zunächst eine Testdosis von 25 Mikrogramm Wirkstoff. „Und danach dreimal im Abstand von vier Stunden je 50 Mikrogramm.“ Gegen 10 Uhr setzten die Wehen ein – und hörten nicht mehr auf. Vier Stunden lang, gefühlt ohne Pause. Mediziner nennen das einen Wehensturm. „Für mein Kind war das der pure Stress, die Herztöne wurden schwächer.“

Letztlich habe der Sohn per Notkaiserschnitt geholt werden müssen, am Abend eines langen, harten Tages. Das Kind kam gesund auf die Welt. Ein Wehensturm ist eine seltene, aber mögliche Nebenwirkung von Cytotec und anderen Medikamenten, die sogenannte Prostaglandine enthalten. Dass allein Cytotec jüngst durch Berichte der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Bayerischen Rundfunks“ ins Gerede kam, liegt vor allem daran, dass es nicht für die Anwendung in der Geburtsmedizin zugelassen ist.

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Es wurde als Magenschutzmittel entwickelt. Eher zufällig war man auf seine Eigenschaft gestoßen, Kontraktionen der Gebärmutter auszulösen und den Muttermund zu öffnen. Deshalb nutzen Geburtsmediziner seit Jahren Cytotec dafür, eine Geburt einzuleiten. Eine solche Anwendung außerhalb des ursprünglichen Zulassungsgebietes – ein sogenannter „Off-Label-Use“ – ist im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit erlaubt.

Sie hat aber den Nachteil, dass das so genutzte Medikament nicht der gleichen strengen Überwachung unterliegt wie Arzneien, die im Rahmen ihrer Zulassung eingesetzt werden. Darauf verweist das für die Aufsicht zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm): „Während für die zulassungskonforme Anwendung hinreichend Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit vorliegen, sodass ein behördlich geprüftes und bestätigtes positives Nutzen-Risiko-Verhältnis vorliegt, ist das bei Anwendung zugelassener Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassungsbedingungen häufig nicht der Fall.“

Geburtsmediziner wehren sich gegen Vorwürfe

Ist die Verwendung von Cytotec in der Geburtsmedizin also gefährlich? Die in Deutschland vorliegenden Zahlen bestätigen das nicht. Dem Bfarm lägen insgesamt 74 Verdachtsmeldungen unerwünschter Arzneimittelwirkungen im Zusammenhang mit der „Off-Label-Anwendung“ von Cytotec bei der Geburtseinleitung vor, teilt das Institut auf Anfrage mit. „Darunter befindet sich ein Todesfall, in dem ein Neugeborenes vier Tage nach der Geburt infolge einer Lungenblutung verstarb.“

Die Mutter hatte neben Cytotec noch ein weiteres Mittel zur Geburtseinleitung erhalten. Angesichts dessen, dass allein in vier Berliner Kliniken jährlich 1850 Geburten mit Cytotec eingeleitet werden und geschätzt mehr als die Hälfte der Geburtskliniken in Deutschland das Medikament zigtausendfach anwenden, ist das trotz der Dramatik der einzelnen Fälle keine hohe Quote. Andererseits sind Ärzte beim Off-Label-Use nicht verpflichtet, Probleme zu melden.

Die Dunkelziffer könnte also höher liegen. Berliner Geburtsmediziner wehren sich nun gegen Vorwürfe, dass die Gesundheit der Schwangeren und Neugeborenen durch das Medikament gefährdet werde. „Wir haben jahrzehntelange gute Erfahrungen mit dem Medikament gemacht“, sagt zum Beispiel Chefarzt Michael Abou-Dakn vom St. Joseph-Krankenhauses, einer der größten Geburtskliniken in Deutschland. Er kann sich dabei auch auf eine internationale Überblicksstudie des renommierten Cochrane-Netzwerks aus dem Jahr 2014 stützen.

12 000 erfolgreiche Einleitungen seit dem Jahr 2000

Diese kommt zu dem Schluss, „dass das Profil von Wirkung und Risiken von Misoprostol – dem in Cytotec enthaltenen Wirkstoff – mit dem anderer gängiger Wirkstoffe vergleichbar“ sei. In die Untersuchung flossen 75 relevante Studien mit fast 14.000 Teilnehmerinnen ein. Die Cochrane-Wissenschaftler weisen zudem darauf hin, dass eine Geburt mit Medikamenten einzuleiten stets mit Risiken verbunden sei.

Dazu zähle auch eine „Überstimulation“ der Gebärmutter, wie sie Cornelia Simon erlebte. Dies müssten die Ärzte gegen die Gefahren eines weiteren Abwartens abwägen. Abou-Dakn ist überzeugt, dass der Nutzen von Cytotec bei der Geburtseinleitung überwiege. Und Wolfgang Henrich, Chef der Geburtsklinik der Charité, sagt: „Wir haben seit dem Jahr 2000 um die 12.000 Einleitungen mit Cytotec erfolgreich durchgeführt. In der richtigen Dosierung und Anwendung ist es ein hervorragendes, den teuren Alternativ-Präparaten auch überlegenes Medikament.“

Auch die Chefs anderer Geburtskliniken sehen Cytotec eher positiv, ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Der Hersteller von Cytotec, der Pharmariese Pfizer, könnte also auf begeisterte ärztliche Stellungnahmen bauen, strebte er für das Arzneimittel eine Zulassung für die Geburtsmedizin an. Aber das will der Konzern gar nicht. Für die Anwendung von Cytotec „gibt es nach unserer Einschätzung keine ausreichenden, randomisierten, kontrollierten und verblindeten Studien, die eine verlässliche Aussage diesbezüglich erlauben“, teilte die Firma mit.

Die Komplikationen kommen von einer falschen Anwendung

„Die vorliegenden Studien reichen nicht für eine Zulassung des Medikaments in dieser Indikation aus.“ Also liegt es bei den Ärzten selbst, den Nutzen des Wirkstoffes zu bewerten. Die Komplikationen kämen nicht vom Wirkstoff, sondern von einer zu hohen Dosierung oder falschen Anwendung, ist Charité-Chefarzt Wolfgang Henrich überzeugt. Für die Einleitung einer Geburt liege die ideale Dosierung weit unterhalb der in einer Cytotec-Tabletten normalerweise enthaltenen 200 Mikrogramm Wirkstoff.

Das habe die Charité bereits 2008 in einer Studie herausgearbeitet. Und bei Patientinnen, die bereits einen Kaiserschnitt oder andere größere Operation an der Gebärmutter hinter sich haben, „verbiete sich der Einsatz von Cytotec und allen auch zugelassenen Medikamenten der gleichen Wirkstoffgruppe zur Geburtseinleitung“. Dies erhöhe das Risiko eines Gebärmutterrisses um ein Mehrfaches, der sogar das Leben der Gebärenden gefährden könnte. „Diese Kontraindikationen sind lange bekannt“, sagt Henrich. „Wenn sich die Ärzte daran halten, dann steht Cytotec für eine sichere Wirksamkeit und gute Verträglichkeit.“

14 von 19 Berliner Geburtskliniken setzen Cytotec ein

Eine öffentlich verfügbare Übersicht der Geburtskliniken in Deutschland, die Cytotec zur Einleitung einer Geburt einsetzen, gibt es bislang nicht. Eine Umfrage des Tagesspiegels unter den 19 für Kassenpatienten zugelassenen Berliner Geburtskliniken Berliner Krankenhäuser ergab, dass 14 das Medikament einsetzen, wenn auch als eine Option unter mehreren Alternativen: die beiden Charité Geburtskliniken an den Standorten Mitte und Virchow-Klinikum, die beiden DRK-Kliniken Berlin Westend und Berlin Köpenick, das Helios Klinikum Berlin-Buch, das Krankenhaus Waldfriede, das Sankt Gertrauden Krankenhaus, das St. Joseph-Krankenhaus Tempelhof sowie die sechs Geburtskliniken an den Vivantes Krankenhäusern: Auguste-Viktoria-Klinikum, Humboldt-Klinikum, Klinikum am Urban, Klinikum im Friedrichshain, Klinikum Kaulsdorf und Klinikum Neukölln.

Von den 19 Klinken machten fünf Angaben, wie oft Cytotec bei ihnen jährlich im Durchschnitt angewendet wird. In den beiden Charité-Kliniken ist das bei rund 700 Geburten der Fall (von insgesamt rund 5400 Geburten, rund 13 Prozent). Im Krankenhaus Waldfriede werden rund 230 von insgesamt rund 1200 Geburten mit Cytotec eingeleitet (19 Prozent), im DRK-Klinikum Westend 520 von insgesamt rund 2600 Geburten (20 Prozent) und im St. Joseph Krankenhaus 400 der rund 4200 Geburten (rund zehn Prozent).

Als Gründe für die Verwendung von Cytotec nennen die Kliniken unter anderem diese Punkte: „effektivere Wirkung und für die Frauen angenehmer zu verabreichen“, „viele Frauen wollen keine vaginale Anwendung, wie es bei den Alternativen nötig ist“, „langjährige gute Erfahrungen mit der Wirksamkeit und Sicherheit“, „laut internationalen Empfehlungen ist das Medikament erste Wahl bei einer Einleitung einer Geburt über Termin, um einen Kaiserschnitt zu vermeiden“, „Studien sehen Vorteile mit Blick auf Wirksamkeit und Sicherheit von Cytotec“.

Alle Krankenhäuser verneinen, dass der vergleichsweise niedrige Preis von Cytotec bei der Entscheidung eine Rolle spielt.

Die Kliniken geben an, dass allen Geburtsmedizinern bewusst sei, dass es sich hierbei um ein Off-Label-Use des nicht für eine Geburtseinleitung zugelassenen Medikamentes handelt und dass die Patientinnen deshalb immer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben speziell aufgeklärt und auf Alternativen hingewiesen würden.

Das Sana Klinikum in Lichtenberg hat als einzige Berliner Geburtsklinik geantwortet, kein Cytotec einzusetzen. Eine Begründung für diese Entscheidung wollte die Klinik nicht geben.

Drei Kliniken – das Evangelische Waldkrankenhaus Spandau, das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und das Martin Luther Krankenhaus – wollten zu den Fragen keine Stellungnahme abgeben. Eine weitere Klinik hat auf die Umfrage nicht reagiert.

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