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Berlin: Und plötzlich dachten alle: Duisburg

Als sich nachts immer mehr Besucher vor den Eingängen drängten, wurde das Berlin-Festival abgebrochen. Verletzte gab es nicht

Eigentlich wollten sie bis morgens um sechs feiern – doch um 2.45 Uhr war plötzlich Schluss. Wer der Mann war, der von einer der fünf Bühnen den vorzeitigen Abbruch des Festes im Ex-Flughafen Tempelhof verkündete, wussten die Besucher nicht. Wütend waren sie dennoch. „Es flogen Bierflaschen und Becher“, sagte Besucher Karsten Härtel. Der 21-Jährige war extra aus Leipzig angereist und einer von tausenden Gästen im Hangar 4. Gepfiffen wurde ebenfalls. Und als Härtel mit Freunden das Gelände verließ, begleiteten ihn Polizisten.

Für Veranstalter, Sicherheitsdienst und Polizei stellten sich die frühen Morgenstunden am Sonnabend dramatisch dar: Im Laufe der Nacht waren immer mehr Besucher zur Bühne im Hangar gedrängt und hatten dessen Eingänge schließlich verstopft. Sie wollten ab 3.30 Uhr den britischen Musiker Fatboy Slim sehen. Das Berlin-Festival galt als Abschluss und Höhepunkt der neu initiierten „Berlin Music Week“, der Abbruch sei im Sinne größtmöglicher Sicherheit erfolgt, hieß es von den Veranstaltern. Man habe Panik befürchtet. Festivalsprecher Carsten Stricker sagte: „Es waren eigentlich keine Massen am Hangar, höchstens 300 Leute.“ Nach der Katastrophe in Duisburg hätten jedoch viele ein anderes Sicherheitsempfinden, vielleicht sei die Entscheidung abzubrechen übervorsichtig gewesen. „Aber wenn sich nur ein Gast das Knie aufgeschlagen hätte, wären wir in Teufels Küche gekommen“, sagte Stricker.

An die Hangars grenzt das frühere Rollfeld mit einer fast vier Quadratkilometer großen Rasenfläche. Sie war durch Bauzäune abgegrenzt, die aber im Notfall hätten umgeworfen werden können. „Doch in Panik handeln Menschen nicht rational, sondern rennen womöglich alle zu einer bestimmten Treppe oder Tür“, sagte ein erfahrener Sicherheitsmann. „Und das eben leider auch, wenn daneben eine riesige Freifläche ist.“

Die Veranstalter hatten offenbar schon mit Gedränge gerechnet. Bereits am Donnerstag hatten sie auf ihrer Homepage angekündigt, dass es „bei Überfüllung einzelner Bereiche zu kurzzeitigen Einlassstopps“ kommen könne und Anweisungen des Personals respektiert werden sollten. Ob etwa Hangar 4 zu sperren sei, wurde bei jedem Auftritt erneut geprüft. Ein eingesetzter Sicherheitsmann sagte: „Die Polizei ist nach den Ereignissen in Duisburg sehr sensibel. Allerdings muss man sagen, dass vor Ort mehr Security angebracht gewesen wäre.“ Gut 100 Sicherheitsleute seien bei rund 10 000 Besuchern am Sonnabend und fast 20 000 verkauften Wochenendkarten „knapp berechnet“ gewesen.

Zu Gedränge kam es bereits, nachdem das Programm auf der Hauptbühne kurz vor Mitternacht mit dem Auftritt der britischen Rockband Editors endete – aus Lärmschutzgründen durfte die Freiluftbühne nicht weiter bespielt werden. Die Folge: Tausende Besucher drängten in wenigen Minuten zu den nächstgrößeren Bühnen, die sich in den alten Hangars des Ex-Flughafens befinden und somit nicht von Lärmschutzauflagen betroffen waren. Vor den Eingängen dieser Hallen waren Schleusen eingerichtet, also kleine Durchgänge zwischen aufgestellten Metallzäunen. Das Sicherheitspersonal ließ nur so viele Besucher ein, wie drinnen Platz hatten. Vor allem vor der Schleuse am Hangar 4, östlich der Hauptbühne, bildete sich daraufhin ein Pulk.

Auch außerhalb des Festivalgeländes hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine größere Menschentraube gebildet. Laut Polizei warteten dort rund 1000 Personen vergeblich auf Einlass – die Stimmung sei „mit der Zeit und auch mit steigendem Alkoholpegel“ deutlich gekippt. Die Anstehenden seien aggressiver geworden, Ausschreitungen habe es aber nicht gegeben.

Sicherheitsleute und Festivalmitarbeiter lobten am Sonnabend die Entscheidung, die Veranstaltung abzubrechen. Kenner sagten allerdings, man hätte die Publikumsmagneten besser verteilen – und zu keinem Zeitpunkt in einem Hangar konzentrieren sollen.

Um Probleme in der Nacht zu Sonntag zu vermeiden, haben die Verantwortlichen das Programm kurzfristig verkürzt, einzelne Auftritte wurden im Zeitplan nach vorne verlegt, andere ganz abgesagt. Statt wie ursprünglich geplant bis Sonntag früh um sechs Uhr sollte das Programm nun auf allen Bühnen bereits um 23 Uhr enden, um anschließend nicht ein erneutes Gedränge vor den Eingängen der verbliebenen Bühnen zu riskieren. Um die Kartenbesitzer über den neuen Zeitplan zu informieren, verschickten die Veranstalter am Sonnabend hunderte SMS und Mails. Manche Fans beschwerten sich darüber, dass sie für die Tickets 70 Euro gezahlt hatten – und nun weniger geboten bekämen. Olaf Kretschmar, Sprecher der „Berlin Music Week“, sagte, er könne die Wut verstehen. „Dennoch: besser wütende Gäste als verletzte.“ Die Festivalleitung erklärte, dass sie mit Künstlern, die nicht auftreten könnten, Gespräche über Zusatzkonzerte führe: „Behaltet bitte eure Tickets und eure Festivalbändchen – nehmt unser Angebot wahr. Wir halten euch auf dem Laufenden.“

Der Ex-Flughafen Tempelhof wird seit seiner Schließung im Oktober 2008 für Messen und Konzerte genutzt. Mit dem größten Gebäude Europas hat sich Berlin neben Hamburg, Hannover und Düsseldorf für die Austragung des Eurovision Song Contest 2011 beworben.

Vielleicht wären die Pfiffe und Buhrufe in der Nacht zu Sonnabend schnell verebbt, wenn die Besucher im Hangar 4 gesehen hätten, was sich draußen vor dem Eingang abspielte. „Ich kann nach der Loveparade alle Bedenken verstehen“, sagt Karsten Härtel. Er konnte es erst nicht glauben, und dann wurde er wütend, weil es vor der Bühne selbst nur so eng wie auf einer normalen Party gewesen sei. Auch einige Künstler wurden zunächst nicht über den Grund des vorzeitigen Endes informiert. Der DJ einer Nebenbühne musste während eines Songs abbrechen, erfuhr aber erst am nächsten Tag per E-Mail, weshalb.

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