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Erich Honecker persönlich legte den Grundstein für die Großsiedlung Neu-Hohenschönhausen.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Neu-Hohenschönhausen: Wo die Sonnenuhren vorgehen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 61: Neu-Hohenschönhausen.

Am 9. Februar 1984 legte im Berliner Nordosten Erich Honecker persönlich den Grundstein für eine neue Großsiedlung. Knapp 30 000 Wohnungen sollten in den folgenden Jahren in Hohenschönhausen entstehen.

Fünfeinhalb Jahre später, am 5. Oktober 1989, wurde der Bau der Siedlung offiziell abgeschlossen.

Zwölf Tage später schloss die SED offiziell mit Erich Honecker ab.

Noch einmal 23 Tage später fiel die Mauer.

Im heutigen Ortsteil Neu-Hohenschönhausen erinnert an einer Hausfassade in der Barther Straße 3 eine Gedenktafel an Honeckers Grundsteinlegung. Ringsum sah ich die Plattenbauten des letzten abgeschlossenen Großbauprojekts der DDR-Ära in den Himmel ragen: sechsstöckig, elfstöckig, 19-stöckig. Pappelpollen lagen in der Luft, denn wo immer schnell wachsende Häuser gebaut werden, sind die schnell wachsenden Pappeln nicht fern.

Schutt schleppen statt Hintern kriechen

Die Kioskverkäuferin am S-Bahnhof Hohenschönhausen sah mich spöttisch an, als ich sie fragte, ob es im Ortsteil irgendwelche Sehenswürdigkeiten gebe. „Nee“, sagte sie. „Nur Arbeiterschließfächer.“ So, erklärte sie mir, hätten sie früher in der DDR die Plattenbauwohnungen genannt. Die Kioskverkäuferin war eine gute Erzählerin. Plastisch malte sie mir die Baustelleneinsätze aus, mit denen man sich zu DDR-Zeiten Genossenschaftsanteile erarbeiten konnte, um in Hohenschönhausen eine Wohnung zugeteilt zu bekommen. Schutt schleppen, Nachtwache schieben, Zement anrühren, alles außerhalb der regulären Arbeitszeit, nach Feierabend und am Wochenende. Es klang nach harter Arbeit, aber irgendwie auch nicht unattraktiv: Wäre doch toll, dachte ich, wenn man sich im heutigen Berlin den Zugang zu einer Wohnung durch ehrliche Arbeit verdienen könnte, anstatt einem Makler in den Hintern kriechen zu müssen. Als ich der Kioskverkäuferin versicherte, dass diese Genossenschaftseinsätze doch eigentlich eine ganz gute Idee gewesen seien, schnaubte sie nur verächtlich. „Fanden wir gar nicht.“

Steinernes Sofa, Relikt der sozialistischen Außenraumgestaltung.
Steinernes Sofa, Relikt der sozialistischen Außenraumgestaltung.

© Jens Mühling

Bei meinem anschließenden Spaziergang stolperte ich zwischen den Hochhäusern immer wieder über kleine Skulpturen, Relikte der sozialistischen Außenraumgestaltung. Ein bronzenes Kranich-Paar; ein steinernes Sofa; ein üppiger Frauenakt mit einem Lamm im Arm; spielende Kinder. Natürlich hatten die meisten dieser Skulpturen gar keine sozialistische Botschaft – außer der, dass sie im Rahmen eines sozialistischen Bauprogramms aufgestellt worden waren. Trotzdem ertappte ich mich dabei, wie ich in den Plastiken nach versteckten Propagandalosungen suchte. Die Sonnenuhr im Park an der Ribnitzer Straße zum Beispiel, die aus rätselhaften Gründen zwei Stunden vorging – war sie nicht ein Symbol für die Übererfüllung des Plans? Für den Anbruch einer neuen Zeit? Oder formulierte sie gar eine subtile DDR-Kritik, indem sie auf Gorbatschow anspielte: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben?

Ich rief mich innerlich zur Ordnung. Eines fernen Tages, dachte ich, wird jemand durch die Ruinen des Kapitalismus laufen und die bundesrepublikanische Kunst am Bau als Zeugnis meiner eigenen Geisteshaltung fehlinterpretieren. Keine schöne Vorstellung.

Fläche: 5,16 km² (Platz 74 von 96)
Einwohner: 55 315 (Platz 21 von 96)
Durchschnittsalter: 42,5 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Achim Kühn (Bildhauer), Erich Honecker (Grundsteinleger)
Gefühlte Mitte: Prerower Platz
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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