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Schlittenfahrt. In Rudow kann man stilvoll heiraten.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Rudow: Wo die Ehen Bergen gleichen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Folge 73: Rudow.

Rudow ist das Erste, was viele Touristen von Berlin wahrnehmen. Mit dem Flughafenbus aus Schönefeld überqueren sie die Stadtgrenze und sehen Neuköllns südlichsten Ortsteil an den Fenstern vorbeiziehen: Einfamilienhäuser, Vorgärten, Zäune, Hecken, Stromkästen mit blau-weißer Hertha-Bemalung und ein Asia-Restaurant mit dem rätselhaften Namen „China Ecke Mauer“. Die Touristen, die natürlich ein ganz anderes Berlin suchen, hieven am Bahnhof Rudow ihre Rollkoffer aus dem Bus und hasten in Richtung U-Bahn, vorbei an der Currywurstbude „Ketchup“, wo keiner von ihnen je stehen bleibt. Schon bevor sie in ihren Airbnb-Wohnungen ankommen, haben die Touristen damit die erste Berliner Sehenswürdigkeit verpasst.

Die Sehenswürdigkeit heißt Margarete und brät seit 25 Jahren Würste in Rudow. Sie kam vor langer Zeit aus dem polnischen Zielona Góra nach Berlin und erinnert sich noch gut an ihre erste Currywurst, die sie in Charlottenburg aß. Bis heute könnte sie jeden Tag eine essen, am liebsten mit scharfen Zwiebeln.

Ein nie versiegender Strom der Rollkoffertouristen

Margaretes Arbeitstag ist lang. Jeden Morgen bricht sie um kurz nach fünf in ihrer Wohnung am nördlichen Stadtrand auf, um vor der Arbeit beim Großhändler einzukaufen. Zurück nach Hause kommt sie abends um halb zehn. Dazwischen steht sie in ihrer Bude, brät Würste, frittiert Pommes, brüht Filterkaffee auf und sieht durch ihr kleines Fenster dem nie versiegenden Strom der Rollkoffertouristen zu.

Margaretes Bude steht an der Spinne. So nennen die Rudower den Verkehrsknotenpunkt am U-Bahnhof, weil die von hier auseinanderstrebenden Straßen auf dem Stadtplan einem Spinnennetz ähneln, in dessen Mitte die Currywurstbude liegt. Viele BVG-Fahrer verbringen an der Spinne ihre Pausen. Margarete kennt sie alle, und alle kennen Margarete. „Ist immer so gemütlich hier“, hörte ich einen der Fahrer zu Margarete sagen. „Weil der Kaffee so schön kühl ist.“ Margarete lächelte nachsichtig, als höre sie den Witz nicht zum ersten Mal. Überhaupt lächelt sie meistens, als sei ihr in Rudow nichts Menschliches fremd.

Ein paar Straßen weiter, in der Dorfkirche, fand gerade eine Hochzeit statt. Ich setzte mich unauffällig in die vorletzte Bank. Die Pastorin erklärte dem Brautpaar, sie sei als Gottesdienerin „in einem nicht immer frommen Umfeld“ froh, wenn junge Leute mit dem Segen des Herrn heiraten. Ich war nicht sicher, ob sie damit die Berliner im Allgemeinen oder speziell die Rudower meinte. Kurz darauf gaben sich V. und M. das Jawort, ein Gospelsänger schmetterte amerikanischen Sakralpop, und die Hochzeitsgemeinde stimmte nach Kräften ein. Es war ein happy day für Rudow, oh lord, what a happy day, everybody now, say it, come on, Rudow ...

Die Ehe, erklärte die Pastorin zum Abschluss, sei wie ein Gebirge: Manchmal gehe es bergauf, manchmal bergab. Ich hatte diese Worte noch im Ohr, als ich am südlichen Stadtrand den Dörferblick erklomm, einen 85 Meter hohen Berg aus Trümmern, Müll und einer dünnen Schicht Begrünung. Von oben hat man einen ausgezeichneten Blick auf den toten Flughafen BER, der mir plötzlich vorkam wie eine schlechte Ehe: Er bewegt sich in keine Richtung, aber es fühlt sich immer an wie bergab.

Fläche: 11,8 km² (Platz 23 von 96)
Einwohner: 42033 (Platz 29 von 96)
Durchschnittsalter: 46,5 ( Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Heinz Buschkowsky (Politiker), Arno Funke (Kaufhauserpresser)
Gefühlte Mitte: Rudower Spinne
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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