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Der Schlot raucht noch - zumindest in Siemensstadt.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Siemensstadt: Wo der Arbeiter kämpft

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Teil 78 kommt aus Spandau.

Hätte sich Berlin nicht durch Weltkrieg und Teilung weitgehend vom internationalen Wirtschaftsgeschehen abgekoppelt, sähe heute vielleicht die halbe Stadt so aus wie der Ortsteil Siemensstadt. Staunend lief ich an den monumentalen Backsteintempeln der frühen Industrieära vorbei, an Gießereien, Heizkraftwerken, Automobilfabriken und Forschungslaboren, an Kabel-, Dynamo-, Turbinen-, Metall- und Motorenwerken, erbaut im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert unter der Ägide jener Industriellendynastie, der Spandaus östlichster Ortsteil den Namen verdankt.

Vor dem Nordtor des Siemens-Dynamowerks an der Nonnendammallee – einem der nicht mehr allzu vielen Großbetriebe, die hier bis heute produzieren – sah ich einen Mann mit buschigem Proletarierschnauzbart stehen. Er drückte mir eine eng bedruckte Selbstverlagszeitung in die Hand, die vor klassenkämpferischem Vokabular strotzte. Das Werk, erklärte er mir, solle von 750 Mitarbeitern auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft werden. Die Gewerkschaft tue nichts, der Betriebsrat auch nicht, nur die Werktätigen selbst könnten jetzt noch ihre Arbeitsplätze retten, wenn sie vereint dafür kämpften. „Einen Finger kannste brechen“, sagte der Mann, „aber fünf sind eine Faust!“ Er träumte von einem Streik, einem Aufstand, wenn nicht einer Revolution.

Dicke Chopper, tätowierte Finger

Neben dem Werkstor parkten dicke Motorräder auf dem Bürgersteig, ihre Flanken verziert mit nacktärschigen Airbrush-Pin-ups. Ein Hüne im Blaumann schwang sich in den Sattel seines Choppers, riss mit tätowierten Fingern den Gasgriff auf Anschlag und schwenkte donnernd in den Verkehr auf der Nonnendammallee ein. Der Klassenkampf-Agitator und ich sahen zu, wie seine massige Silhouette stadtauswärts verschwand, dem Spandauer Sonnenuntergang entgegen. Ich sah ein stilles Lächeln über die Lippen des Agitators ziehen und fragte mich, wo es diese Art von Arbeiterromantik wohl in Berlin sonst noch gibt.

Auf der anderen Straßenseite, vor dem alten Gebäude der Siemens-Hauptverwaltung, ragt ein Obelisk in den Himmel, auf dessen Spitze ein bronzener Adler hockt. Das heute etwas reichsnational wirkende Denkmal erinnert an die Siemens-Beschäftigten, die im Ersten Weltkrieg fielen. Ihre knapp 3000 Namen sind auf Tafeln am Fuß des Obelisken verewigt. Später hinzugefügt wurden ein paar Erinnerungsblöcke für die namenlosen und nicht näher bezifferten Siemens-Toten des nächsten Krieges.

Ein Denkmal für die Siemens-Toten

Erzählt hatte mir von diesem Denkmal kurz zuvor eine ältere Dame, mit der ich an der Currywurstbude am U-Bahnhof Siemensdamm ins Gespräch gekommen war. Ihr Vater war aus dem Zweiten Weltkrieg nicht heimgekehrt, sie hatte ihn nie kennengelernt. In ihrer Kindheit, sagte sie, sei sie einmal vor dem Denkmal stehen geblieben und habe die endlosen Namenslisten auf sich wirken lassen. „Ich dachte damals“, sagte sie, „das seien die Namen aller Menschen, die in allen Kriegen gestorben sind. Als ich später erfuhr, dass es nur die Siemens-Toten eines einzigen Krieges sind, konnte ich es nicht fassen. So viele Opfer!“

Erst als ich selbst vor dem Denkmal stand, wurde mir klar, dass es in gewisser Weise auch ein Grabstein der Siemensstädter Industrialisierung ist. Wären die Kriege nicht gewesen, sähe der Ortsteil heute anders aus.

Fläche: 5,66 km² (Platz 71 von 96)

Einwohner: 13 143 (Platz 71 von 96)

Durchschnittsalter: 40,6 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Wilhelm von Siemens (Industrieller), Hans Scharoun (Architekt)

Gefühlte Mitte: U-Bahnhof Rohrdamm

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