zum Hauptinhalt

Berlin: Ursula Eckstein (Geb. 1943)

Sie diskutierte, bis das Lehrerzimmer in Rauchschwaden versank.

Flink, klein und ehrgeizig war sie. Eine ausgezeichnete Fünfkämpferin, der man die kraftaufwendigen Disziplinen Kugelstoßen und Speerwurf gar nicht ansah. Wie auf dem Sportplatz ihres Vereins „Z 88“, so sprang, flog und sauste sie auch durchs Leben. Ein kesses, draufgängerisches Leichtgewicht mit kurzen blonden Haaren und sonnenverwöhntem Teint. Schon als Kind, beim Spielen auf der Straße, hatte sie das Sagen. Das berüchtigte Zehlendorfer Schwesternkleeblatt: Christa, Irene, Uschi und die kleine Babsi. Der Vater starb früh. Die Mutter, eine Putzfrau, tat alles, um die vier Mädchen unbeschwert durch die Nachkriegszeit zu bringen. Aber ganz konnte sie die materielle Not nicht vergessen lassen. Das prägte Uschi Eckstein, die damals noch Uschi Heintz hieß. Wenn sie später eines nicht mochte, dann, wenn sich jemand selbst nichts gönnte.

Das Gymnasium schaffte sie spielend leicht, das Pädagogik-Studium finanzierte sie selbst. In einem Eisladen schöpfte sie eine Eiskugel nach der anderen, bis ihr selbst der Appetit auf Nachspeisen für immer verging. Dabei war sie wirklich eine Genießerin, eine, die das Leben in einem fort aufsog, wo und wie immer es sich bot: Ausgehen, Reisen, Kultur, Mode, gutes Wohnen. Auch die Arbeit als Grundschullehrerin gehörte dazu. Strumpfhosen und Glockenröcke? Für die altbackenen Kleidungsvorstellungen ihres Rektors an der Kreuzberger Jens-Nydahl-Grundschule war sie zu emanzipiert. Sie kreuzte weiter frech mit Minirock und Hosenanzug auf. Um ihre modische Eigenständigkeit zu unterstreichen, setzte sie gelegentlich noch ein avantgardistisches Hütchen auf.

Die Kinder liebten sie für ihren lebendigen Unterricht. Selbst ein Thema wie Steinkohle gedieh bei ihr zum Sachkunde-Happening. In den Pausen saß sie dynamisch gestikulierend mit den Kolleginnen zusammen, sog an der Zigarette und diskutierte, bis das Lehrerzimmer in Rauchschwaden versank.

Als Jugendliche im Sport hatte sie Disziplin gelernt, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Drei- bis viermal in der Woche Training. Unzählige Sprints und Sprünge.

Doch einmal nachzugeben, von einem Ziel abzulassen und eine Vorstellung vom Leben zu überdenken, das fiel ihr schwer, auch später als Erwachsene. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war es drin und kam so schnell nicht wieder raus. Ihre Ehe, die mit einer bombastischen Wohnungsparty begann, ging nach zehn Jahren in die Brüche. Sie mochte sich eine Zukunft mit Kindern nicht vorstellen. Ihre Freiheit aufgeben? Lange und nah genug hatte sie erlebt, wie es ihrer Mutter ergangen war.

Auch das deftige Grünkohlessen beim Lehrerkollegen ließ sie sich nicht vom Nichtrauchergebot vermiesen. Nach dem Essen zog sie die Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie mit dem Feuerzeug an und bat den Gastgeber, er möge bitte die Balkontür schließen, sie friere so leicht.

Mit 40 war sie geschieden. Das bedeutete ja nicht, zu alt zu sein für die Liebe. Wohl aber zu reif für neue Beziehungswagnisse. Sie füllte ihre Zeit mit Bekanntem und Neuem: Kollegen-Kegelkreis hier, Literaturkreis dort. Ihre Schwestern, die es in die Welt verschlagen hatte, kamen nur noch selten in Berlin zusammen. Stattdessen besuchte sie sie einzeln, reiste nach New York, Brüssel und Hamburg.

Anfang 2000 ließ mit einem Mal ihre Stimmkraft nach, und es fiel ihr schwer, durch die Nase zu atmen. Als noch starke Schmerzen in den Händen dazukamen, musste sie den Schuldienst aufgeben und fiel in ein tiefes Loch. Sie beteiligte sich an einem Nichtraucherkurs. Am Ende des letzten Tages schmiss sie an der Bushaltestelle eine halb volle Schachtel in den Müllbehälter und zündete sich nie wieder eine Zigarette an.

Die Frau, die einmal Bronzemedaillengewinnerin im Fünfkampf gewesen war, kam als Frühpensionärin kaum die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Die Gefäße waren kaputt. Auch ein aufwendiger Umzug in eine andere Wohnung verschaffte keine Linderung. Etliche Operationen ließ sie über sich ergehen. Die Ärzte legten Bypässe bis in die Unterschenkel. Es half alles nichts. Ihre Beine hatten längst entschieden, sie nicht länger durch die Welt zu tragen. Eine letzte Operation, die inneren Organe gaben auf. Sie fiel ins Koma und starb. Stephan Reisner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false