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Berlin: Ursula Haucke (Geb. 1924)

Ihr freundliches Wesen schien einen Offizier zu rühren

Papa, Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt …

Ein Satzeinstieg, so alarmierend umständlich, dass er alle aufhorchen ließ: Die in den siebziger Jahren gestartete Radioserie „Papa, Charly hat gesagt“ wurde schnell berühmt. Sieben Minuten Diskussion zwischen Vater und Sohn, sieben Minuten, in denen die Wirtschaftswunderwelt sich durch einen Kindermund infrage stellen lassen musste. Maßgebliche Autorin der Serie war Ursula Haucke, den Vater sprach ihr jüngerer Bruder Gert. Ein Berliner Geschwisterpaar, das wusste, wie es ist, alles zu verlieren.

Hineingeboren wurden die beiden in eine 10-Zimmer-Wohnung am Kurfürstendamm, mit einem Flur, lang genug, um darin Fahrrad fahren zu lernen. Zu Weihnachten glitzerte eine Vier-Meter-Tanne im Wohnzimmer, im Sommer brauste man im Automobil der Marke Graham-Paige an die See. Der wahre Reichtum ihrer Kindheit aber bestand im Temperament ihres Vaters. Er liebte es, Leute einzuladen, Geschichten zu erfinden und Späßchen zu treiben, ein Rechtsanwalt, der seinen Kindern lieber Lust am Blödsinn beibrachte statt Gehorsam und Disziplin.

So wie er wollte auch die Tochter werden, dem Leben zugewandt und außerdem Juristin. Aber die Zeiten waren nicht danach. In ihren Erinnerungen fragt Ursula Haucke sich, warum sie all die Hitler-Liedchen so gedankenlos mitträllerte, warum sie die zitternde jüdische Mitschülerin, die gerade einen Schulverweis erhalten hatte, nicht tröstete. Dass sie dem BDM beitrat, hatte ihre Mutter zu verhindern gewusst. Ansonsten herrschte daheim eine Stimmung des Abwartens. Abwarten, bis der Spuk vorüber ist. Doch der Krieg kam und ging nicht einfach vorüber. Er nahm alles mit.

Die Wohnung am Kurfürstendamm: ein Haufen Asche. Der Vater als Kriegsgerichtsrat in Frankreich. Ursula, Gert und die Mutter auf engstem Raum bei einem Bauern in Templin. Etwas aber hatte Ursula Haucke sich aus ihrer Vorkriegskindheit gerettet: einen leisen anarchischen Zug. Den nahm sie mit auf ihre Arbeitsstelle als Sekretärin des Kreisamtsleiters Heindorf – mit dem Ergebnis, dass der Chef ihr drei Monate nach Arbeitsantritt eine Liste vorlegte: ihre Worte, Tag für Tag, Woche für Woche heimlich notiert von Kolleginnen.

Auf „Volksverhetzung“ stand Gefängnis. Gerettet wurde sie von ihrem Vater, der gerade Heimaturlaub hatte. Sie wurde nur strafversetzt und arbeitete fortan als Putzfrau in einem Kinderheim.

Der einst so unbeschwerte Vater war inzwischen ein nervöser, viel rauchender und trinkender Mann, der sich wenig später unter ungeklärten Umständen erschoss.

Doch je dunkler das Leben sich zeigte, desto heftiger wurde Ursula Hauckes Verlangen, es anders zu erzählen. „Wieso in meinem Kopf so viele Geschichten herumspukten, die alle möglichst witzig erzählt sein wollten, während die Wirklichkeit so beklemmend, der Alltag so mühselig, die Zukunft so dunkel und beängstigend war – ich weiß es nicht!“

Der Respekt vor der Wirklichkeit war bei den Hauckes seit je geringer ausgeprägt als bei anderen. So gehörten sie gegen Ende des Krieges zu den letzten Verbliebenen in Templin. Einen Fluchtversuch hatten auch sie unternommen, auf Fahrrädern, aber weil die Mutter in jeder Kurve in den märkischen Sand geflogen war, waren sie wieder umgekehrt. Der Anblick der einmarschierenden Russen flößte Ursula Haucke Angst ein, aber, so schreibt sie, auch Neugier.

Ihr freundliches Wesen schien einen Offizier zu rühren. Während seine Soldaten durch die Häuser stampften, saß er neben dem jungen Mädchen in der Küche, zeigte ihm Fotos seiner getöteten Familienmitglieder und weinte. Ursula weinte mit, und dann saßen sie stumm nebeneinander, Stunde um Stunde.

70 Jahre später sitzt die ältere ihrer beiden Töchter in dem mit Büchern vollgestopften Haucke-Häuschen und denkt an eine Mutter, die den Krieg überstanden hatte, ohne hart zu werden. Eine Mutter, für die Sitzenbleiben kein Grund zur Kümmernis war, die ihren Kindern Spickzettel schrieb und vergilbtes Papier besaß, um bei Bedarf alte Verträge zu fälschen.

An eine Autorin denkt sie, die in den fünfziger Jahren mit dem Theaterstück „Brötchen und Tee“ an der Komödie am Kurfürstendamm ihren ersten Erfolg gefeiert hatte, zusammen mit ihrem Bruder Gert in der Hauptrolle und ihrem künftigen Mann als Bühnenbildner. Die nachts, wenn die Töchter schliefen, hunderte „Charly“-Folgen, Theaterstücke, Hörspiele und Erziehungsratgeber schrieb.

Was Ursula Haucke verdiente, hin und wieder war das viel, schenkte sie der Welt mit vollen Händen zurück, ihre Handtasche ließ sie überall liegen, eine Altersabsicherung hat sie nie abgeschlossen.

Die Tochter erinnert sich an eine Mutter, die nie ängstlich war und doch von einer großen Angst besessen: der Rückkehr des Krieges. Ursula Haucke hatte eine WG für schwer erziehbare Jugendliche gegründet, sich in der SPD und in Friedensorganisationen engagiert. Noch als 90-Jährige sprach sie lieber über die Krankheiten der Welt als über die eigenen, versenkte sich in jeden Bericht über den Syrien-Krieg, legte den Töchtern ans Herz, sich der Flüchtlingsschicksale anzunehmen.

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