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Berlin: Ute von Fintel (Geb. 1960)

Für alle Fälle gibt es Plan B. Plan A lautet: Gesundwerden.

An einem verregneten Sommertag bummelt eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters über den Kurfürstendamm. Sie strahlt. Mürrischen, gehetzten Blicken wirft sie ein Lachen entgegen. Schwer wiegen die Einkaufstüten in ihren Händen, aber sie spürt keine Erschöpfung. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie hat einen Rock gekauft, eine Bluse, eine wunderschöne Jeans. Größe 38. – „Was würde ich darum geben, auch mal wieder so schlank zu sein“, hat die Verkäuferin gesagt. – „Glauben Sie mir, nicht alles“, hat Ute erwidert. Und gelacht.

In den Tüten liegen auch Weihnachtsgeschenke für ihre Patenkinder. Schon jetzt, im Sommer. Nicht, weil sie sich aufgegeben hätte, sondern für alle Fälle, Plan B. Plan A lautet: Gesundwerden.

Ein halbes Jahr ist seit der Diagnose vergangen. Seit jenem Moment, vor dem jeder Angst hat, in dem sich etwas zwischen Gegenwart und Zukunft drängt. Die Ungewissheit der Zukunft Gestalt annimmt und die Bedeutung der Gegenwart ins Unermessliche steigt. Ute entscheidet sich für Gegenwart und Optimismus. Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.

Ihre Angst gilt nicht dem Tod, sondern der Lücke, die im Leben bleibt. Für ihren Mann, ihre neunjährige Tochter Marleen und ihren sechs Jahre alten Sohn Marius, in ihrem Freundeskreis, in ihrem Beruf als Pressereferentin. „Das ist noch nicht ganz rund“, sagt sie über ihr Leben. Ein Gespräch mit dem Pfarrer, eine Woche vor ihrem Tod.

„Abitur? Du?“, hatte Utes Vater einst gefragt. „Wozu?“ Sie würde einen netten jungen Mann kennenlernen und eine Familie gründen. Ute war siebzehn, kurz vorm Realschulabschluss. Die folgenden zehn Jahre arbeitete sie als Zahnarzthelferin. Dann studierte sie doch. Und wurde Vorstandsreferentin und stellvertretende Pressesprecherin der AOK. Ein Foto zeigt sie im Gespräch mit dem Bundespräsidenten Roman Herzog. Das rote Kostüm, das sie trägt, hat ihre Mutter für diesen Empfang maßgeschneidert. Spätestens beim Anblick dieses Fotos wich jede Skepsis des Vaters dem Stolz. Und Ute musste schmunzeln, als der überzeugte SPD-Mann mit dem Foto in der Hand im kleinen Heimatort von Haus zu Haus zog.

In einem aber behielt ihr Vater Recht: 1992 lernte Ute einen netten Mann kennen. Jörg. Eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin. Damals studierte sie Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg und war auf dem Weg zu einem Praktikum in Berlin. Dort lebte er. Sechs Jahre später heiraten sie. Ute findet, auf den Tischkärtchen sollten nicht die normalen Namen der Hochzeitsgäste stehen, sondern Geisternamen. Die gemeinsame Freundin, die die Fahrgemeinschaft arrangiert hatte, ist der „Kuppelgeist“.

Als Jörg sie beim Streichen der Wohnung beobachtet, lacht Ute plötzlich laut auf. Sie hat ihn nicht bemerkt, sie hat an einen Witz gedacht. Welcher Witz das gewesen sein könnte, daran erinnert er sich nicht mehr, aber an sein Staunen über dieses frohe Gemüt. An seine Bewunderung. An ihr Lachen und an seine Liebe.

Ihren Humor verliert Ute nie, auch nicht als im Herbst nach neun Chemotherapien die Metastasen weiterwachsen. Wenig später erkrankt sie an Gelbsucht, das Todesurteil für ihren geschwächten Körper. Ihr Mann erkundigt sich noch nach der Möglichkeit einer Lebertransplantation. „Wer soll das unterschreiben?“, fragen die Ärzte und zerstören die letzte Hoffnung.

Mit dem Blick in den kleinen Garten ihres Hauses, das sie eineinhalb Jahre zuvor gekauft haben, sagt Ute zwei Wochen später zu ihrem Mann: „Morgen möchte ich sterben.“ Mit Tränen in den Augen und einem Lächeln. Am nächsten Morgen sendet sie zwei SMS an gute Freundinnen: „Wie Sterben wohl sein wird?“ und „DANKE“. Wenige Stunden später stirbt sie. Wie geplant. Ein kleiner Sieg gegen die Willkür des Schicksals.

Kurz vor ihrem Tod hat sich Ute der schwersten Aufgabe ihres Lebens gestellt. Wie erklärt eine Mutter ihren kleinen Kindern, dass sie nicht mehr lange auf der Erde bleiben kann, aber immer in ihrer Nähe sein wird? Ute schenkte jedem von ihnen einen kleinen, bronzefarbenen Schutzengel. Etwas, woran sie sich festhalten können. Und sie verriet ihnen, wo sie immer zu finden sein würde: am Abendhimmel hinter dem hellsten Stern, am Tage auf der schönsten Wolke. Wie der kleine Prinz, der seinen großen Freund verlässt und auf die Sterne deutet. Die Sterne, die lachen können, auch wenn es nicht jeder sieht. Andrea Kambartel

Andrea Kambartel

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