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Berlin: Valeria Albrecht (Geb. 1935)

Wie soll ein Lehrer in 45 Minuten 30 Schüler sprechen lassen?

Ruhrpott 1935, Duisburg, Zechen, Hochöfen, Arbeitersiedlungen, Arbeitslose. Eine Mutter, 24, hochschwanger, fünf Kinder schon geboren, drei davon früh gestorben. Ehe das sechste da ist, verunglückt der Vater in der Grube. Die Mutter, allein nun, arbeitet am Tage bei der Reichsbahn, stopft am Abend Socken fremder Leute. Die älteste Tochter betreut die jüngeren Geschwister, den Bruder, die kleine Valeria. 1944/45 Bomben auf Duisburg, Flucht nach Weißenfels, Monate im Verschlag hinter einer Trep- pe. Valeria, dunkles Haar, versunken oft in Bücher, muss fort, Kinderlandverschickung, in einem Zug nach Polen, ein Pappschild mit ihrem Namen um den Hals. Am Bahnhof in Zakopane die Lagerleiterin, blonder fester Knoten im Nacken, die Lippen zwei Bindfäden, der Kittel faltenfrei und blitzsauber. Zucht und Ordnung, ruft sie, werd ich euch beibringen.

1946, Winter, kaum Kohlen, Lebensmittelmarken, geklaute Kartoffeln, in der Schule enge überfüllte Klassenräume, verunsicherte Lehrer, keine Bücher. Nach acht Jahren endet die Bildung. Arbeiterkinder sollen arbeiten. Auch Valeria muss gehen. Eigentlich möchte sie an der Schule bleiben, aber sie beginnt nun eine Malerlehre.

Knapp ist das Lehrlingsgehalt. Die Mutter verdient nichts, sitzt krank und missmutig auf dem alten Sofa, wartet darauf, dass Valeria am Abend nach Hause kommt. Die älteste Tochter lebt längst in der Schweiz, der Sohn wieder in Duisburg. Abhängig fühlt die Mutter sich von Valeria. Warum nicht die besseren Verhältnisse wählen, denkt sie, und verlässt eines Nachts die kleine Wohnung, einfach so, fährt zu ihrem Sohn ins Ruhrgebiet. Nicht mal einen Zettel findet Valeria am Abend, als sie nach Hause kommt.

Unglück und Glück, Abschied und Neubeginn. Zeitenwandel. Valeria, 16, bleibt allein im Osten. Dort entscheidet bald nicht mehr das Geld über die Bildung, sie darf endlich lernen. Und lieben auch. Sie erhält einen Platz an einer der neu gegründeten Arbeiter- und-Bauern-Fakultäten. Trifft ihren Mann.

Die beiden ziehen nach Berlin. Valeria studiert Slawistik, entdeckt Puschkin, Gogol und Dostojewski. Die Bücherstapel neben und auf ihrem Schreibtisch wachsen an zu Türmen. Sie ist sich ganz und gar gewiss: Unterrichten will sie, den Kindern die gewaltigen Welten von Sprache und Literatur zeigen, ihnen das ermöglichen, was ihr zu lange versagt geblieben war.

Sie reist nach Moskau, das Studium abzuschließen, beobachtet eines Tages in den Gängen der Universität eine kleine faltige Frau in zerschlissenen Pantoffeln, läuft ins Studentenwohnheim, holt ein Paar ihrer ledernen Schuhe, überreicht sie der Frau. Die schaut ungläubig das deutsche Mädchen an, sammelt sich im nächsten Moment, spricht eine Einladung in ihr Heimatdorf aus. Am nächsten Nachmittag besteigt Valeria zusammen mit einer Freundin die Elektrischka. Lange müssen sie fahren, raus aus der Stadt, bis zu einem ländlichen Bahnhof, auf dem die Einwohner des Dörfchens warten. Man feiert ein Fest, trinkt auf die Mädchen, immer wieder. Valeria bestaunt die Liebenswürdigkeit der russischen Leute. Ist sie doch eine Deutsche. Und weiß, bald wird sie ihren Schülern von dieser versöhnlichen Begegnung erzählen.

Sie erzählt. Aufmerksam hören die Schüler zu. Valeria ihrerseits fragt sich, auf welche Weise die Schüler effektiver lernen können. Das Institut für Fremdsprachen bietet ihr eine Stelle an. Valeria leitet eine Wissenschaftlergruppe, die sich mit Sprachkabinetten beschäftigt. In einem Sprachkabinett geht es um das aktive Sprechen. Wie jedoch soll ein Lehrer, allein, innerhalb von 45 Minuten dreißig Schüler zum Sprechen bringen? Die Idee ist, jedem Schüler in einem abgeschirmten Bereich ein eigenes Tonbandgerät samt Kopfhörern zur Verfügung zu stellen. Der Schüler hört Texte, eingesprochen von Muttersprachlern und reagiert selbstständig darauf. Gleichzeitig kann der Lehrer Kontakt zu jedem Einzelnen aufnehmen. Valerie experimentiert, diskutiert in ihrer Gruppe die Forschungsresultate, richtet erste Sprachkabinette an Schulen ein. Sie beginnt eine Doktorarbeit, bricht jedoch ab.

Ich werde dich verlassen, sagt ihr Mann eines Abends. Packt seine Sachen, geht zu einer anderen Frau, seiner großen Liebe, wie er beteuert. Valeria sitzt betäubt auf dem Sofa, denkt an ihren Vater, die Mutter. Versucht am nächsten Morgen sich zu konzentrieren, auf ihre Arbeit, die Promotion. Zweifelt, ob es richtig ist, matt die Tage im Institut vorüberziehen zu lassen, gereizt, einfallslos. Bittet um ihre Kündigung. Wieder an eine Schule, mit Schülern, Praxis, nicht reine Theorie, hofft Valeria und übernimmt den Russischunterricht an einer Oberschule.

Die Schüler verehren ihre Lehrerin. Eine zwölfte Klasse, Valeria ist nicht die Klassenleiterin, bittet sie mitzukommen nach Budapest auf die Abschlussreise, unbedingt. Valeria spaziert mit den jungen Leuten die Donau in Buda hinauf, in Pest wieder hinab, geht mit ihnen schwimmen, ins Margaretenbad. Alle jubeln und jauchzen, tragen Reiterwettkämpfe aus. Der kräftigste der Jungen nimmt Valeria auf seine Schultern, pflügt mit ihr durchs Wasser, Valeria kann sich vor Lachen kaum halten.

Zu offen, direkt soll sie mit den Schülern umgegangen sein. Das Idealbild eines Oberschullehrers sieht anders aus, bestimmen die Funktionäre und entlassen Valeria aus der Volksbildung. Gleichwohl, sie beugt sich nicht, studiert ein weiteres Mal.

Am letzten Tag ihres Lebens liegt Valeria im Bett, den Sohn, die Tochter, Freunde bei sich. Sie kann kaum sprechen, möchte jedoch etwas sagen. Bewegt die Arme. „Wie eine Lehrerin“, lacht ihr Sohn. Tatjana Wulfert

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