zum Hauptinhalt

Berlin: Verbrannte Zeit

Im Filmarchiv des ZDF wurde Feuer gelegt. Viele Zeitdokumente fielen den Flammen zum Opfer

Es war ein ausgelassener Samstagabend für Karin Pantring. Feiern mit Freunden, spät ins Bett. Überhaupt ein entspanntes Wochenende. Aufatmen nach Monaten Mammutstress, in denen sie und die Kollegen den Bestand gesichtet hatten, beschriftet und vorsortiert für den und die digitale Erfassung. Regal für Regal, Fach für Fach. Um halb sieben ist die Nacht vorbei. Das Telefon schrillt. Als Karin Pantring im Taxi sitzt, sieht sie die Rauchschwaden von weitem. „Und dann kam mir eine Kollegin aus der Technik entgegen, die sagte nur: ,Hier noch nicht weinen! Hier ist überall Presse!’ Aber bei mir lief schon das Wasser runter.“

Auf der Oberlandstraße in Tempelhof und dem Gelände mit der Hausnummer 8889 stehen Polizeifahrzeuge und Rettungswagen, Drehleiterfahrzeuge, drei Spezialwagen mit Messgeräten und sechs große Löschhilfsfahrzeuge. Das Gebäude ist das ZDF-Landesstudio Berlin. Was da brennt, ist das Filmarchiv im Keller, das sie seit 1997 leitet. Original-Sendebänder der Magazine „drüben“ und „Kennzeichen D“, die in Berlin, nicht in Mainz produziert wurden. Magnetbänder, Kassetten und Filmkopien, vor allem aber Drehmaterial. Originalaufnahmen der Korrespondenten, seit die aus der DDR berichten durften. Bilder und Stimmen von Menschen in den Auflösungsphasen der DDR. Montagsdemos, das Auseinanderbrechen der Mauer und die Umbrüche danach. Zeitgeschichte, gespeichert für das immer kürzere historische Gedächtnis der Zeitgenossen. „Das Wichtigste war auch gesendet worden“, sagt Karin Pantring, heute 45, und weiß, dass das kein Trost ist. Man dreht viel mehr als man sendet. Was an Dokumenten von heute wichtig ist, sieht man oft erst übermorgen.

Für Rolf Erbe wäre um die Zeit normalerweise die Nacht zu Ende. Aber in dieser Nacht zum 22. August 1999 war um 3 Uhr 54 der Alarmruf eines Wachmanns eingegangen: Einsatzstichwort „Feuer“, Zusatz „Brandsatz im Keller“. Rolf Erbe ist 38, Brandoberinspektor der Berliner Feuerwehr und Zugführer der Wache Neukölln. Kurz danach ist er am Ort, mit den Einsatzkräften der Feuerwachen Tempelhof und Schöneberg. Aus den Kellerfenstern an der Längsseite des 70erJahre-Flachbaus steigt Rauch. Der Wachmann erwähnt wieder den Brandsatz, der durch ein Fenster geworfen worden sei.

Erbe geht mit ihm ein paar Stufen hoch zum Haupteingang, der im Erdgeschoss liegt, Kellerzugänge erkunden. Aber er kommt nicht weit. „Nach einer halben Treppe war alles total verqualmt, man kam in den Keller gar nicht rein ohne Atemschutz.“ Der Wachmann zeigt einen versteckten Notausgang direkt in den Hof. Er hat Schlüssel dafür. Sie bauen die Wasserversorgung auf, erkunden den Ort. „Das ist ja nicht so wie oft im Fernsehen“, erklärt Erbe, „die Feuerwehr kommt und spritzt erst mal die Wände nass oder irgendwo rein. Das macht bloß großen Wasserschaden. Wir löschen erst, wenn wir das Feuer sehen.“ Auf der Rückseite ist noch ein Eingang, aber der eignet sich nicht. Also legen sie ein zweites C-Rohr durch ein kaputtes Kellerfenster in einem Luftschacht. Dass hier Kunststoff brennt, riecht ein erfahrener Feuerwehrmann sofort. Inzwischen wissen sie, dass es Filmmaterial ist. Womöglich sogar altes, aus Zellulosenitrat? Atemschutz ist jetzt Pflicht für alle. Ein Löschfahrzeug muss aus dem Hof gefahren werden, der Qualm verteilt sich in schwarzen Flocken auf breiter Fläche. Um 4 Uhr 32 alarmieren sie den ELW aus Neukölln. Der Einsatzleitwagen hat Messgeräte an Bord. Der Wachmann bringt einen Grundriss vom Kellergeschoss. Erbe schickt vier Mann nach unten, Atemmasken über dem Kopf, 15 Kilo Gerät am Leib und den schweren Schlauch in den Händen. Auch sie sind nach fünf Minuten wieder oben. „Sieht ganz anders aus, als du gesagt hast“, stöhnen sie frustriert. Der Grundriss stammt aus der Zeit vor dem Umbau. „Durch den Rauch sieht man die Hand vor Augen nicht, man muss sich tastend vorwärts bewegen. Man merkt nur, irgendwann wird es warm.“

Es wird sehr warm. Der Boden ist glitschig. Noch immer haben sie das Feuer nicht gesehen. Sie werden durch einen dritten Trupp abgelöst, der ebenfalls erfolglos hochkommt. Sie werden erst mal den dichter werdenden Rauch bekämpfen. Mit dem Drucklüfter, einer Art Riesenventilator, vom Kellereingang her. Aber weder Hitze noch Rauch ziehen ab. Verstärkung trifft ein. Feuerlöschen ist schwere körperliche Arbeit, unter der Maske schafft man maximal 30 Minuten. Also Luftaustausch verstärken. Zwei weitere Drucklüfter werden eingesetzt, die Kellerfenster eingeschlagen. Sie liegen in Luftschächten, und die sind teilweise mit Gittern und Matten abgedeckt.

Inzwischen schlängelt sich der Rauch durchs ganze Gebäude und legt sich über Computer und Mobiliar. Endlich sind Flammen zu sehen – aber auf der anderen Seite des Kellerraums, gegenüber dem Brandherd, den der Wachmann angegeben hatte. Das heißt, dass mindestens ein Drittel der 207 Quadratmeter brennt. Jetzt geht nur noch der Außenangriff. Fluten mit Schaum. Um halb sechs schießen sie aus sechs Rohren durch die Fenster auf die lodernden Dokumente der Zeitgeschichte. Brennende Zeit, begraben unter einem Teppich aus Wasser, das künstlich zu Badeschaum aufgepumpt wurde. Der Rauchpilz ist in ganz Süd-Berlin zu sehen und versetzt Anwohner in Panik. In den Funkbetriebszentralen von Polizei und Feuerwehr herrscht Hochbetrieb. Als Karin Pantring um kurz vor sieben eintrifft, schlagen Flammen aus den Kellerfenstern. Ein Feuerwehrmann hat im Keller fast einen schweren Unfall. Beim Kontrollieren, welchen Erfolg das Schäumen hat, verklebt sich der Lungenautomat der Atemschutzmaske. Glücklicherweise ist er nicht tief im Keller.

Das Gelände wimmelt von Einsatzkräften, Polizei, Presse und ZDF-Mitarbeitern. Der für Brandkriminalität zuständige Oberstaatsanwalt Karlheinz Dalheimer kommt zum Ort. Zwischen Hektik und Fassungslosigkeit schwirren Spekulationen durch die Rauchschwaden. Wer wirft einen Brandsatz ins ZDF-Archiv? Ist das was Politisches? Der Staatsschutz wird eingeschaltet, wird sich aber bald wieder rausziehen. Die Ermittlungen der Brandkommissare ergeben: Es hat keinen Brandsatz von außen gegeben. Es gibt vielmehr zwei Stellen auf dem Kellerboden, an denen Papier angezündet wurde. Da hätte niemand von außen etwas hinwerfen können. „Der hätte einen mehrfach gewinkelten Arm haben müssen!“, frotzelt Egon Burrasch vom dritten Brandkommissariat des Landeskriminalamts (LKA 123). Er ist Ingenieur für Brandschutz, das gab es nur in der DDR. Dort hatte, anders als im Westen, die Feuerwehr nicht nur zu löschen, sondern auch zu ermitteln, mit der Kriminalpolizei.

Vier Brandingenieure hat das LKA Berlin nach der Wende übernommen. Burrasch ist der letzte. „Das ist geballtes Fachwissen und schafft Vertrauen zwischen Kripo und Feuerwehr“, sagt Michael Havemann, der Dezernatsleiter des LKA 12 (Brand, Vermisste, Delikte an Schutzbefohlenen). Noch immer viel zu oft empfinden Feuerwehrleute nämlich Brandermittler als heimliche Kontrolleure und Kripos Brandlöscher als Tatortverwüster. Egon Burrasch hat den Tatort ZDF-Filmarchiv bearbeitet. Er hat die beiden Stellen gesehen, an denen jemand aus Aktenordnern gerissene Seiten zerknüllt und angesteckt hat. Er hat die Regale untersucht, die nicht längs an den beiden Wänden entlangliefen, sondern platzsparend quer, wie in allen großen Dokumentenlagern. Er weiß, was abgelaufen ist: „Die ebenfalls aus den Regalen gerissenen Filmdosen haben Feuer gefangen, der Brand hat sich seiner thermischen Eigenschaft folgend trichterförmig zwischen diesen Regalen nach oben ausgebreitet, das hat einen Wärmestau unter der Decke verursacht, der die Holzspanplatten oben auf den Regalen durchgebrannt hat. Und die sind brennend in die Regale gefallen.“ Das war das Ende des Archivmaterials auf der linken Seite des Raumes. „Überwiegend Drehmaterial und ein Teil der ,Kennzeichen D’-Kassetten. Da war nichts mehr zu machen“, erinnert sich Karin Pantring. „Das hing in so dunklen Fäden von der Decke, wie angebrannte Spaghetti.“ Als sie mit Jörg Redieske zum ersten Mal in den Raum darf, packt sie „das blanke Entsetzen. Aber dann auf der rechten Seite, Filmbüchsen, okay, die gehen noch. Ich seh mich noch wie heute auf dem Boden sitzen, Filmbüchse auf – hah! Es ist noch was da! Das war der erste lichte Moment.“ Redieske, der altgediente Archivar, hatte alles penibel beschriftet. „Dank seinem guten Gedächtnis und diesen Aufschriften, die trotz Ruß, Rauch und Rost teilweise lesbar waren, haben wir mühselig rekonstruiert, was noch zu retten war.“ Die alten Karteikarten waren mitverbrannt. Aber sie hatten einen Raumplan gemacht, für den Umzug des ganzen Landesstudios nach Mitte. Je eine Seite für jede Wand, Regal für Regal, Fach für Fach, Dose für Dose. Damit können sie der Bergungsfirma genau sagen, was aus dem Keller rauszuholen lohnt.

Es gab zwar nie giftige Nitrofilme im Archiv, aber sie dürfen ohne Atemschutz nicht rein, und „im Schutzanzug mit so einer Gasmaske, da kann man nicht arbeiten!“ Gleichzeitig geht die normale Arbeit weiter. Montag wird das Morgenmagazin produziert, bei der Berliner Union-Film gegenüber. „Der Bau war komplett verrußt, die Telefonanlage ging nicht, wir hatten keine Computer. Wir haben zwei, drei Wochen auf dem Hof gestanden, Handy und Zettel in der Hand, und alles organisiert!“ Es gibt eine Welle von Solidarität. „Vom SFB damals, sofort. Wahrscheinlich haben sämtliche Archivare der Republik mitgelitten, denn unseres war das erste Fernseharchiv, das abgebrannt ist.“

Den Brand zu löschen hatte gut fünf Stunden gedauert. Beschädigtes zu regenerieren, duplizieren, sichern und digital zu erfassen, dauert zwei Jahre. Die Trauer über verlorenes Kulturgut wird bei manchen ein Leben lang dauern. Die Ermittlungen, wer diesen Brand gelegt hat, müssen nach einem knappen halben Jahr eingestellt werden. „Mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Absatz 2, wie das so heißt“, sagt Oberstaatsanwalt Dalheimer, sehr erfreut wirkt er nicht.

Die Akte ist dennoch nicht zugeklappt, nicht nur, weil Brände für Versicherungen interessant sind. 5000 Ermittlungen wegen Branddelikten bearbeitet die Abteilung 2 der Staatsanwaltschaft pro Jahr. „In Berlin wird kräftig gezündelt“, sagt der 61-jährige gebürtige Badenser mit leiser Ironie. Ein Vorläufer seiner Abteilung, sagt er, war die Abteilung 1a der Preußischen Staatsanwaltschaft, die 1933 den Reichstagsbrand „bearbeitet“ hat.

„Es ist schwieriger, einen Brandstifter zu fassen als einen Mörder“, sagt Kriminaloberrat Michael Havemann. Bei Tötungsdelikten gibt es fast immer Spuren, bei Bränden nicht. Die drei Brandkommissariate des LKA 12 bearbeiten ausschließlich vorsätzliche Brandtaten, im Jahr etwa 3000. Ein knappes Viertel wird aufgeklärt. „Wir verzeichnen aber in den letzten Jahren einen Rückgang, das liegt wohl auch an unserer Präventionsarbeit.“ Die Feuerwehr hat jährlich 7000 Alarmierungen zum Stichwort „Feuer“, bei ihr gehören dazu auch die vielen auf dem Herd vergessenen Kochtöpfe. „In Berlin wird offenbar rund um die Uhr gekocht“, lacht Rolf Erbe, der heute das Fachgebiet „Rettungsdienst“ der Feuerwehrschule leitet. Karin Pantring hat im lichten, neuen ZDF-Archiv im Zollernhof ein plattenspielergroßes „Mahnmal“ aufgestellt. Eine angekokelte, angerostete Blechfilmbüchse unter Glas, der Deckel halb offen, penibel beschriftet, darin eine schwarz verschmolzene Filmrolle. Ein Stück verbrannte Zeit.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false