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Endlich ein Zug: Viele Bahnsteige der S-Bahn sind derzeit überfüllt mit Fahrgästen.

© dpa

Geschichte: Als die S-Bahn noch Vorbild für effektiven Nahverkehr war

Millionen Kunden fahren täglich mit ihr. Und sie sind genervt. Bremsen, Achsen und das Wetter setzen ihr zu. Dabei hat sie eine lange Tradition.

SCHNELLBAHN

Kaum zu glauben: Die seit gut eineinhalb Jahren in ihrer bisher größten Krise steckende S-Bahn war einst weltweit ein Vorbild für einen effektiven Nahverkehr. Schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die preußische Eisenbahn-Verwaltung begonnen, neben den Fernbahngleisen eigene Schienen für den Vorortverkehr zu legen. Die 1877 eröffnete Ringbahn war gleich viergleisig konzipiert worden, die von Anfang an viergleisige Stadtbahn, die quer durch die Stadt den Ostbahnhof mit Charlottenburg verbindet, folgte 1882. In den 20er und 30er Jahren wurden innerhalb kürzester Zeit die meisten Gleise elektrifiziert, so dass moderne Triebwagen den unwirtschaftlichen und langsameren Dampfbetrieb ablösen konnten. Mit dem Bau des Nord-Süd-Tunnels, der 1939 abgeschlossen werden konnte, war das in aller Welt bewunderte Netz im Prinzip vollendet: Die Stadt- und die Ringbahn sowie die Nord-Süd-Strecke führten jeweils durch weitere Strecken an ihren Enden weit ins Umland. Besser konnte man ein großes Siedlungsgebiet nicht erschließen.

Der Begriff „S-Bahn“ für den Stadt-, Ring- und Vorortverkehr entstand zu Beginn der 30er Jahre. Bis heute ist nicht klar, wer ihn geprägt hat. Wahrscheinlich war es die Abkürzung für den mit der Elektrifizierung möglichen „Stadtschnellverkehr“. Ende der 20er Jahre war erstmals ein selbst gemachtes Logo „SS-Bahn“ am Bahnhof Halensee angebracht worden. Dieser Begriff setzte sich jedoch zum Glück nicht durch; am 1. Dezember 1930 wurde offiziell von der Reichsbahn der Begriff „S-Bahn“ eingeführt.

SCHRUMPFBAHN

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag auch das einst vorbildliche Netz der S-Bahn in Trümmern. Doch schon Ende 1947 konnten die Züge wieder auf fast allen Stecken fahren. In den folgenden Jahren elektrifizierte die Reichsbahn der DDR, die auch nach der Trennung der politischen Verwaltung der Stadt für das gesamte System zuständig geblieben war, weitere Strecken – auch als Ersatz für aufgegebene Fernbahnverbindungen in den Westteil der Stadt. Mit der Vollendung der Teilung durch den Mauerbau 1961 wurde auch die S-Bahn im Westteil der Stadt vom übrigen Netz abgeschnitten; ehemalige Zulaufstrecken wurden stillgelegt. 1980, nach einem Streik der West-Beschäftigten, gab die Reichsbahn auf gut der Hälfte des Netzes in West-Berlin den defizitären Betrieb auf. 1984 nahm die BVG nach der Übernahme der Betriebsrechte zunächst sogar nur noch zwei Streckenstummel wieder in Betrieb.

Seit 2009 gibt es nun wieder eine Schrumpfbahn – wie einst nach dem Krieg oder dem Mauerbau. Die S-Bahn fährt nicht mehr auf allen Linien – eingestellt sind die S 45 (Schönefeld-Südkreuz) und S 85 (Waidmannslust-Grünau). Auf anderen Linien fahren die Züge mit weniger Wagen als vorgesehen und auch nur in größeren Abständen als der Fahrplan vorgibt. Was einst nur Bomben und Stacheldraht schafften, gelang jetzt auch dem Management der Bahn: Das Schrumpfen der S-Bahn.

SPARBAHN

Im 21. Jahrhundert angekommen, hatten die Bahn-Oberen beschlossen, die S-Bahn zu einer ihrer Sparbüchsen zu machen, um die Konzernbilanz glänzen zu lassen. So sollte die Bahn attraktiv werden für den Gang an die Börse oder zumindest für einen Einstieg der russischen Staatsbahn als Mitgesellschafter. Mit dem Programm „Optimierung S-Bahnen“ trimmte die Konzernspitze das florierende Unternehmen auf Sparkurs: Stellen wurden gestrichen, Werkstätten geschlossen, Fahrzeuge vorzeitig verschrottet, um Wartungskosten zu sparen.

Betriebswirtschaftlich waren diese Einschnitte nicht nötig, denn die S-Bahn schwamm – wie Dagobert Duck – im Geld. Da die Bahn das Monopol für den Betrieb hatte, war es ihr gelungen, mit dem Senat einen Verkehrsvertrag auszuhandeln, der üppige Zuschüsse aus der Landeskasse vorsieht. Über 230 Millionen Euro bekommt die S-Bahn jedes Jahr; die dreimal so große landeseigene BVG muss sich derzeit mit 250 Millionen Euro begnügen, weshalb sich bei ihr der Schuldenberg anhäuft.

Bei der Verlängerung des Vertrags 2004, der bis 2017 läuft, war es dem Senat nach zähen Verhandlungen gelungen, den Zuschuss um rund 20 Millionen Euro zu kürzen. Der Senat war stolz darauf, und die S-Bahn jammerte, sie müsse nun jahrelang Verluste hinnehmen. Doch wenig später war sie wieder auf der Gewinnschiene und überwies dem Konzern erneut jährlich stattliche Überschüsse. 2008 waren es 56,3 Millionen Euro, und für dieses Jahr hatten die Konzernstrategen einst in ihrer Finanzplanung sogar satte 125 Millionen Euro vorgesehen.

SCHROTTBAHN

Dass die Rechnung nicht aufging, liegt an einem simplen Radbruch. Am 1. Mai 2009 war deshalb ein Zug im Fahrgastbetrieb entgleist. Mit viel Glück blieb es beim materiellen Schaden; verletzt wurde niemand. Einen Tagesspiegel-Bericht, wonach es auch schlimmere Folgen hätten geben können, wies die damalige S-Bahn-Führung energisch zurück; nach wenigen Tagen musste sie aber zugeben, dass es ein Sicherheitsproblem gibt, weil die Räder nicht so lange halten wie es bei der Konstruktion vorgesehen war. Gegenüber dem aufsichtsführenden Eisenbahn-Bundesamt (EBA) verpflichtete sich die damalige Geschäftsführung danach, die Räder häufiger zu kontrollieren. Weil sie dieses Versprechen nicht einlöste, ließ das EBA zum ersten Mal einen großen Teil der Fahrzeuge stilllegen, was zum Zusammenbruch des Betriebes führte. Auch Achsen hatten sich inzwischen als bruchgefährdet erwiesen und müssen seither öfter kontrolliert werden, was zu häufigeren Werkstattaufenthalten führt. Im Herbst 2009 stellte sich dann heraus, dass die Bremsanlagen der Züge nicht vorschriftsmäßig gewartet worden waren; wiederum ließ das EBA deshalb einen Großteil der Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen. Im Frühjahr kam heraus, dass Züge im Einsatz waren, deren Räder nach einem Wechsel der Bauart nicht zugelassen waren. Auch diese Bahnen durften danach nicht weiterfahren.

Dass nach einem Auffahrunfall das Bremssystem nachjustiert werden muss, dass Bremssand in Zügen nicht aufgefüllt war, dass ein defekter Zug beim Abschleppen Weichen zerstört, dass Kupplungen reißen oder sich Türen während der Fahrt öffnen – dies alles ist inzwischen bei der S-Bahn möglich und eingetreten.

SCHNEEBAHN

Schon vorher hatte im Winter 2008/2009 eingespartes Schmiermittel dazu geführt, dass das Sicherungssystem bei der S-Bahn massenhaft ausgefallen war. Anfang 2010 setzte dann der heftige Schneefall reihenweise Motoren matt; derzeit stoppen erneut Antriebsstörungen und eingefrorene Weichen den Betrieb. Züge fahren wieder seltener und mit weniger Wagen als üblich. Die Folge: Fahrgäste müssen frierend lang auf einen Zug warten, der dann bei der Ankunft häufig bereits so voll ist, dass es nicht allen Fahrgästen gelingt, einen Platz im Wagen zu erkämpfen.

STREITBAHN

Die Opposition fordert, den Betrieb der S-Bahn auszuschreiben, so dass sich auch Konkurrenten der Bahn bewerben könnten. Größtes Hindernis wäre hier der Kauf der notwendigen neuen Fahrzeuge, was einen Milliardenbetrag verschlingen würde. Den Vertrag vorzeitig zu kündigen, lehnt der Senat ab. Denn auch danach müsste die S-Bahn zumindest die nächsten Jahre unter Regie der Bahn weiterfahren, weil kein anderes Unternehmen auf die Schnelle einspringen könnte.

SENATSBAHN

Die Regierungsfraktionen SPD und Linke trauen dem Bahnkonzern nicht mehr zu, die S-Bahn wieder auf das richtige Gleis zu bringen. Sie wollen der Bahn den Betrieb abkaufen oder die BVG mit dem Fahren beauftragen. Dabei wäre allerdings kein einziges strukturelles Problem bei der S-Bahn gelöst. Eigentümer der Gleisanlagen und der Bahnhöfe bliebe weiter die Bahn AG. Statt ihrem Tochterunternehmen S-Bahn würde der Konzern dann eben der BVG das Geld aus der Tasche ziehen. Erst jetzt war der Konzern auf die Idee gekommen, von der S-Bahn auch für das Abstellen von Zügen Millionenbeträge zu kassieren.

SICHERHEITSBAHN

Trotzdem gilt die S-Bahn nach wie vor als sicher. Um dies zu gewährleisten, hat das Eisenbahn-Bundesamt die umfangreichen Kontrollen der Achsen, Räder und auch des Füllstands der Bremssandbehälter angeordnet, was jetzt zu den häufigeren Werkstattaufenthalten führt. Zudem dürfen die Züge derzeit statt mit Tempo 100 nur 80 km/h als Höchstgeschwindigkeit fahren. Trotz aller Mängel hatte das Eisenbahn-Bundesamt im vergangenen Jahr die ausgelaufene Betriebsgenehmigung verlängert, allerdings zunächst nur für ein Jahr. Den aktuellen Antrag zur weiteren Betriebsgenehmigung hat das EBA noch nicht beschieden. Die Entscheidung muss noch im Dezember fallen.

UNTERNEHMEN

Die S-Bahn ist ein Tochterunternehmen der Bahn AG. Knapp 3000 Mitarbeiter sind bei ihr beschäftigt.

NETZ

Das Streckennetz ist 332 Kilometer lang; davon liegen 257 Kilometer in Berlin und 75 Kilometer auf Brandenburger Gebiet. An 166 Bahnhöfen können Fahrgäste ein-, aus- oder umsteigen.
FAHRZEUGE
Im Bestand sind derzeit 632 Doppelwagen. Einsatzfähig waren zuletzt knapp 360. Vertraglich verpflichtet hat sich die S-Bahn, mindestens 562 Doppelwagen fahren zu lassen. Bei Abweichungen kürzt der Senat die Zuschüsse.

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